Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen
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3.2.4 Die horizontale Liberalisierung: Wettbewerbspolitik und öffentliches Auftragswesen
In den horizontalen Bereich der Liberalisierung fällt vor allem die Wettbewerbspolitik der
Gemeinschaft. Hierbei erweist sich gegenwärtig insbesondere die europäische Beihilfenpolitik als in
höchstem Maße konfliktiv. Einen weiteren Schwerpunkt bildet das Recht der öffentlichen
Auftragsvergabe. Denn gerade dieses ist dazu prädestiniert, der öffentlichen Hand einschließlich der
Kommunalwirtschaft historisch als selbstverständlich erscheinende politische Gestaltungsfreiräume zu
entziehen.
3.2.4.1 Öffentliche Dienstleistungen und die Wettbewerbsordnung des EG-Vertrages
Bereits bei der ursprünglichen Ausverhandlung der Römer Verträge bildete die Einbeziehung
öffentlicher Unternehmen in das Wettbewerbsregime der EWG einen zentralen Konfliktpunkt innerhalb
der Gründungsmitglieder. Im Gegensatz zu den Benelux-Staaten trachteten schon damals vor allem
Italien und Frankreich danach, ihren traditionell stark ausgeformten öffentlichen Sektor dem Einfluss
des marktorientierten Gemeinschaftsrechtes weitgehend zu entziehen. Letztlich konnte jener
Kompromiss mühsam errungen werden, der sich auch noch im heutigen Artikel 86 EG-Vertrag ohne
nennenswerte zwischenzeitige Modifizierung wiederfindet.
Artikel 86 Absatz 1 EG-Vertrag stellt zunächst relativ unmissverständlich klar, dass auch öffentliche
Unternehmen der Wettbewerbsordnung des EG-Vertrages unterliegen. Diese umfassende rechtliche
Gleichbehandlung mit privaten Unternehmen bezieht sich somit unter anderem auf das Kartellverbot
(Art 81 EGV), das Verbot einer missbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung
(Art 82 EGV) sowie das Verbot staatlicher Beihilfen (Art 87 EGV). Sie setzt schließlich implizit auch
voraus, dass öffentliche Unternehmensführung nach den gleichen Maximen wie die private
Unternehmensführung organisiert ist. Dass die Gemeinschaft ferner gemäß Artikel 295 EG-Vertrag
keinerlei Privatisierung vorschreiben dürfe, ändert daran nichts, zumal diese oft nur den konsequenten
Endpunkt einer von der Gemeinschaftspolitik entfachten Liberalisierung darstellt.
Um jedoch die besondere Aufgabe des öffentlichen Sektors zu würdigen, sieht Artikel 86 Absatz 2
eine mehr oder weniger weitreichende Ausnahmemöglichkeit vom Gebot der Gleichbehandlung vor.
Danach gelten für „Unternehmen“, welche mit sogenannten „Dienstleistungen von allgemeinem
wirtschaftlichem Interesse“ betraut sind, die Vorschriften des EG-Vertrages nicht, soweit zwei weitere
Voraussetzungen gegeben sind. Die Anwendung der Bestimmungen des EG-Vertrages würde erstens
die Erfüllung der den Unternehmen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich
verhindern. Und zweitens dürfe die Entwicklung des Handelsverkehrs „nicht in einem Ausmaß
beeinträchtigt werden, das dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderläuft.“ Diese Bestimmung bildet
gleichsam den juristischen Schnittpunkt von Wettbewerbswirtschaft und gemeinwohlorientierter
Wirtschaft (Wimmer/Kahl 2001).
Die Unbestimmtheit ihrer einzelnen Tatbestandskriterien lässt jedoch viele Fragen offen: Welche
Leistung ist „unternehmerisch“ (und nicht vielmehr ausschließlich sozialen Zwecken gewidmet)? Nach
der Judikatur des EuGH sind z.B. Tätigkeiten mit einem ausschließlich sozialen Charakter wie die auf
dem Prinzip der Solidarität beruhenden Pflichtversicherungssysteme der sozialen Sicherheit mangels
Unternehmenseigenschaft vom Wettbewerbsregime des EGV ausgenommen (vgl. EuGH, Rs C-
159/91, Poucet und Pistre, Slg 1993, I-637). Doch wo liegt die Grenze wirklich, ab der von einer
unternehmerischen bzw. wirtschaftlichen Tätigkeit auszugehen ist? Reicht ein potenzieller Anbieter
derselben Leistung irgendwo in der EU? Und wann würde der EG-Vertrag denn die Aufgabenerfüllung
wirklich verhindern? Oder ab welchem Grad ist jenes Ausmaß einer Marktbeschränkung erreicht, das
dem Interesse der Gemeinschaft zuwider läuft? U.s.w. Die damit einhergehende Unsicherheit zur