3 infobrief eu & international Ausgabe 2 | Mai 2015
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„Krieg ohne Waffen“ gesprochen, von
einer „Mafia“. Auch kritischere öko-
nomische Zugänge werden verstärkt
diskutiert. Der Slogan „Es ist keine
Krise, es ist Kapitalismus“ bringt dies
auf den Punkt.
Auch ein Reframing von politischem
Aktivismus wurde vorgenommen:
Nachdem in Spanien lange Zeit eine
Tradition des Schweigens, des sich
Fernhaltens von Politik und damit
von Problemen geherrscht hatte –
ein Phänomen, das als „soziologi-
scher Franquismo“ bezeichnet wurde
und auch junge Menschen betroffen
hatte, die die Diktatur nicht erlebt
hatten – wird Politisierung nun all-
täglich und auch lustvoll: „Wir haben
die Lust am Organisieren gefunden“.
Bereits beim ersten Aufruf zu den
Platzbesetzungen 2011 wurde mehr-
fach betont, dass es sich bei den De-
monstrantInnen um „ganz normale
Menschen” handelte, dass die Be-
wegung keine spezifische Ideologie
voraussetze, sondern nur Empörung
über Ungerechtigkeiten. In ähnliche
Richtung deutet die höchst erfolg-
reiche, aber auch stark kritisierte
Rhetorik der neuen Partei Podemos,
die statt von „links versus rechts“
nur mehr von „unten versus oben“
spricht.
Persönliche Netze wurden stark in-
tensiviert, „ich weiß jetzt, wen ich
um Hilfe bitten kann“ oder „ich habe
sehr viele Freunde in der Bewegung
gewonnen“, sind typische Aussagen.
Gefragt danach, warum Krisenverlie-
rerInnen kaum rechtspopulistischen
Bewegungen zulaufen, wird meist
geantwortet, dass solche Ideologien
ohnehin in der regierenden Volks-
partei gut aufgehoben wären, man
sie seit Franco ablehne und eher auf
„südländische Solidarität“ setze.
Spanien – Überleben in der Krise
verstehen können, dass aus Investi-
tionsgründen mehr Wohnungen leer
stehen, als es Obdachlose gibt.
Der alternative Gesellschaftsent-
wurf: Soziale Zentren n Das sind
entweder besetzte Häuser, manch-
mal auch ehemals besetzte Häuser,
die der Bevölkerung nach jahrelan-
gem Kampf zur Verfügung gestellt
wurden. Sie gelten als Modelle eines
alternativen Gesellschaftsentwurfs,
die dezentrale Organisation und be-
dürfnisorientierte Leistungen erpro-
ben. In der „Casa Pumarejo“ in Sevilla
z.B. finden Stadtteil-Versammlungen
statt, es treffen sich Frauengruppen,
oder eine Gruppe zur Entwicklung
eines neuen Wirtschaftsmodells, es
gibt neben Kunstworkshops auch
Rechtsberatung, eine Organisation
gegen Zwangsräumungen hat einen
wöchentlichen Beratungstermin für
von Delogierung Betroffene, es wird
eine private Währung organisiert,
die über 200 Mitglieder hat und zwei
Mal pro Woche kochen Freiwillige für
Hungernde.
Ein weiteres Beispiel sind die sich
selbstironisch „Hippie-Opas und
-Omas“ nennenden, sehr aktiven
Protestinitiativen von PensionistIn-
nen. Ihre Mitglieder in Madrid z.B.
sind zwischen 60 bis deutlich über 80
Jahre alt. Sie organisieren sich, um
Rechte und soziale Errungenschaften
zu verteidigen und veranstalten wö-
chentliche Protestaktionen.
Es sind darüber hinaus auch sehr
lose organisierte, kaum formal
strukturierte Initiativen entstanden,
wie z.B. „Zeitbanken“, bei denen Ar-
beitsleistungen getauscht werden,
oder auch alternative Währungen
sowie Essensausgaben. Während der
Staat sogenannte MülltaucherInnen,
also Menschen, die ihr Essen im Ab-
fall suchen, mit Strafen bis zu 700
Euro belegt, werden in einer dieser
Initiativen in Madrid täglich bis zu
180 hungrige Personen von Freiwil-
ligen mit Essen versorgt. Diese tun
das auf eigene Kosten und regelmä-
ßig, da sie nicht nur Essen, sondern
auch persönlichen Kontakt und Kon-
tinuität bieten wollen. In den Jahren
der Krise ist ihre Klientel nicht nur
angewachsen, sondern hat sich auch
sozial verändert. Zunehmend kom-
men auch Menschen, die davor der
Mittelschicht angehörten. Manche
nehmen zwei Mahlzeiten. Eine davon
bringen sie den Kindern mit.
Ein zentrales Element all dieser In-
itiativen sind „Asambleas“. Der Be-
griff meint eine spezifische Form von
Versammlungen, die dem Anspruch
nach offen, egalitär, öffentlich, kon-
sensbasiert und weitgehend un-
strukturiert sind. Sie werden als das
Instrument direkter Demokratie ge-
sehen. „Wir wollen die Dinge auf an-
dere Art tun“, sagen AktivistInnen,
nämlich transparent und partizipativ.
Neue Wirklichkeitskonstruktio-
nen und neuer gesellschaftlicher
Zusammenhalt n Ebenso wich-
tig wie die manifeste Mobilisierung
sind Folgen auf symbolischer Ebene,
nämlich Deutungen und Emotionen.
Als zentral wird die Änderung des
Diskurses von individueller Schuld
versus Systemversagen v.a. bei
Wohnungsproblemen, Armut und Ar-
beitslosigkeit beschrieben. „Anfangs
haben wir in den Versammlungen nur
von unseren Erfahrungen erzählt. Ei-
ner nach dem anderen ist aufgestan-
den und hat seine Situation geschil-
dert. Das war ein zentrales Erlebnis.
Da haben die Leute erkannt: Es geht
nicht nur mir so...“
Damit änderten sich auch die Ge-
fühle. Während zu Beginn der Krise
weithin Scham über eigene – als in-
dividuell gesehene – Probleme emp-
funden wurde, wandelte sich diese
im Zuge der Bewegung zunehmend
in geteilte Wut.14 Es wird von einem » »
»
„ Es ist keine Krise –
es ist Betrug.“
Der Mangel an
Sozialwohnungen
verschärft die Krise.