Arbeit&Wirtschaft 1/2015 29Schwerpunkt
und sämtliche Gewerkschaftsschulklassen
besuchen während ihrer zweijährigen
Ausbildung Brüssel, um direkt vor Ort
mehr Erfahrungen und Wissen über die
Europäische Union zu bekommen. So rei-
sen Jahr für Jahr bis zu 400 Gewerk-
schaftsfunktionärInnen für mehrere Tage
in die europäische Hauptstadt und disku-
tieren mit VertreterInnen der verschiede-
nen Gremien (Europäische Kommission,
Wirtschafts- und Sozialausschuss, Euro-
päisches Parlament, Europäischer Ge-
werkschaftsbund, ÖGB und AK-Brüssel-
Büros etc.) europäische Politik.
Die dabei gesammelten Informatio-
nen und Erkenntnisse führen zu einem
nachhaltigen Zugang zur Europäischen
Union, ihrer Struktur und ihrer Politik.
Die Reisen haben ganz klar nicht das Ziel,
die BetriebsrätInnen zu PropagandistIn-
nen der EU zu machen, sondern sie wer-
den dank der Reise zu aufgeschlossenen
EU-BürgerInnen. Viele, die schon vorher
EU-SkeptikerInnen waren, sind oftmals
noch klarer in ihrer Kritik, andere haben
mehr Verständnis für die Gründe man-
cher EU-Entscheidungen, wieder andere
erkennen nun die Wichtigkeit der Teil-
nahme am demokratischen Prozess wie
z. B. der Wahl zum Europäischen Parla-
ment. Die Ergebnisse dieser Bildungs-
maßnahmen (mehr Kurse, mehr Unter-
richt, Besuchsreise nach Brüssel) sind
eindeutig positiv. Die Rückmeldungen
der TeilnehmerInnen unterstreichen die
Wichtigkeit der Reisen und deren inhalt-
liche Vorbereitung. Die schon bald zwei-
tausend MultiplikatorInnen werden in
Zukunft einen wichtigen Anteil an einer
objektiveren Information über die EU in
den Betrieben haben.
Wichtiges Ziel der Ausbildung ist es
auch, die europäische Standortbestim-
mung des ÖGB klar zu machen. Viel zu
oft wissen die eigenen FunktionärInnen
nicht, dass Österreichs Gewerkschaften zu
den kritischsten Stimmen in Europa zäh-
len. Die anhaltende wirtschaftslastige Li-
beralisierungspolitik aus Brüssel ist für
den ÖGB nicht länger tragbar. Die Igno-
ranz der EU gegenüber den Lehren aus
der immer noch anhaltenden Wirtschafts-
krise muss sich ändern. Europas Arbeit-
nehmerInnen werden der derzeitigen Po-
litik nicht ewig passiv gegenüberstehen.
Politikwechsel
Den arbeitenden Menschen muss nun ver-
mehrt vermittelt werden, wie wichtig die
EU-Parlamentswahl und andere Formen
der demokratischen Beteiligung sind. Ge-
rade die vorher angesprochenen Globali-
sierungsverlierer beteiligen sich kaum an
diesen so wichtigen Prozessen. Es gilt, den
Glauben, wonach man ohnehin nichts än-
dern kann, zu überwinden. Es muss den
ArbeitnehmerInnen auch gezeigt werden,
dass ihre Unterstützung für plumpe Anti-
EU-Kräfte nicht Teil eines positiven Poli-
tikwechsels in Europa sein wird.
Neben der EU-Parlamentswahl kön-
nen sich die Menschen bei europäischen
Bürgeranliegen (z. B. jenes gegen die Pri-
vatisierung des Wassers) oder bei der kri-
tischen Bewegung gegen die derzeitigen
Freihandelsabkommen mit den USA und
Kanada engagieren. Tausende Werktätige
tun dies inzwischen und haben begon-
nen, auf Betriebsebene, in ihrer Gemein-
de und auch im privaten Umfeld aktiv zu
werden. Die Erfolge dieses Engagements
sind bereits spürbar, die Haltung der eu-
ropäischen Regierungen wird zunehmend
kritischer und ein Abschluss der Freihan-
delsabkommen in der geplanten Form
erscheint aufgrund der BürgerInnenpro-
teste mehr und mehr undenkbar.
Der ÖGB wird hier auch weiter sei-
nen Beitrag leisten, um immer mehr
Mitglieder und ArbeitnehmerInnen aus
der bisherigen Passivität zu holen. Schon
bei den vergangenen EU-Parlaments-
wahlen gab es viel mehr an Materialien
und Veranstaltungen als bei den vorheri-
gen Wahlgängen. Eine kleine Informati-
onsbroschüre mit einem kompakten
Überblick über die EU wurde mehr als
12.000-mal angefordert. In jedem Bun-
desland hatte der ÖGB Informationsver-
anstaltungen abgehalten, die ebenfalls
von Hunderten ArbeitnehmerInnen be-
sucht wurden. Eine konsequente Hal-
tung der Gewerkschaften, verbunden
mit einer objektiven Informationspolitik
des ÖGB zu Europa, wird in Zukunft
mit Sicherheit zu einem Umdenken in
der ArbeitnehmerInnenschaft führen.
Dann wird auch eine kritische, aber den-
noch positive Haltung zum europäischen
Einigungsprozess nicht als Propaganda
ausgelegt werden.
Internet:
Mehr Infos unter:
www.oegb.at/internationales
Schreiben Sie Ihre Meinung
an den Autor
marcus.strohmeier@oegb.at
oder die Redaktion
aw@oegb.at
Jahr für Jahr reisen bis zu 400 Gewerkschafts-
funktionärInnen für mehrere Tage in die euro-
päische Hauptstadt und diskutieren mit Ver-
treterInnen der verschiedenen Gremien euro-
päische Politik.
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