Arbeit&Wirtschaft 8/201528 Schwerpunkt
Snail City
Der öffentliche Raum ist das erweiterte Wohnzimmer der Bevölkerung. Er soll Platz
für Begegnungen bieten und zum Durchatmen einladen.
N
ico schlürft an seiner Melange,
während er gemächlich die Ta-
geszeitung in einem Couchsessel
der Stadtbücherei durchblättert.
Bis auf das Rascheln von Papier und das
Flüstern der SitznachbarInnen ist es
mucksmäuschenstill. Keine Musik, kei-
ne hastigen Bewegungen. Der 37-jährige
Sozialarbeiter kommt häufig hierher,
wenn ihn das Wetter vom Spaziergang
entlang des Donaukanals abhält. Beide
Orte haben eines gemeinsam: Sie sind
Oasen der Entschleunigung – das, wo-
nach sich immer mehr Menschen seh-
nen, und das, worauf die Wiener Stadt-
entwicklung mit ihren Konzepten zur
Gestaltung des öffentlichen Raums hin-
arbeitet.
Das erweiterte Wohnzimmer
Entschleunigung heißt für Nico, sich in-
nerlich verlieren zu können, sich unter
anderen Leuten unsichtbar zu machen,
an Orten zu verweilen, die nicht unbe-
dingt Konsum erfordern. Das können
Büchereien, Parkanlagen oder einfache
Sitzgelegenheiten in der Innenstadt sein.
Diesem Bedürfnis Rechnung zu tragen
sieht Andreas Baur, Mediensprecher für
die Abteilung Stadtentwicklung und Ver-
kehr der Stadt Wien, als Aufgabe einer
Großstadt. „Der öffentliche Raum ist das
erweiterte Wohnzimmer der Bevölke-
rung, das Angebote zur Erholung schafft“,
so Baur. Er soll Platz für Begegnungen
bieten und zum Verweilen und Durchat-
men einladen. Seine Gestaltung sei daher
wesentlich für die Lebensqualität von
Menschen. Diesen Standard zu halten ist
nicht einfach, denn Wien hat einen Zu-
wachs von knapp 30.000 Menschen jähr-
lich. Da stellt sich die Frage, wie man
angesichts dieser Entwicklung den öf-
fentlichen Raum attraktiv gestaltet.
Flächen zum Verweilen
Die Ideen der Stadt Wien dazu sind im
Stadtentwicklungsplan 2025 (STEP
2025) festgeschrieben. So sollen etwa bis
2025 80 Prozent der Wege mit öffentli-
chen Verkehrsmitteln, dem Rad oder zu
Fuß zurückgelegt werden. Heute sind es
knapp 73 Prozent. Neben Mobilität bil-
det die Schaffung von urbanen Frei- und
Grünräumen einen Schwerpunkt des
Stadtentwicklungskonzepts. Zum Bei-
spiel, indem in dicht verbauten Teilen
der Stadt neue Flächen zum Verweilen
im Freien geschaffen werden. Mit der
ersten Wiental-Terrasse wurde am
1. September ein solches Konzept um-
gesetzt. Auf 1.000 Quadratmetern kön-
nen BesucherInnen auf Sitzbänken das
Treiben des vorbeiziehenden Radver-
kehrs und den Durchzug der darunter-
liegenden U-Bahn verfolgen und sich
dabei selbst treiben lassen. Die Wiental-
Terrasse sei laut Baur kein Ort, an dem
Ruhe herrsche, aber einer, an dem man
in einem schönen Ambiente zur Ruhe
kommen könne. Etwas, nach dem sich
auch Nico sehnt. Wenn es nach ihm gin-
ge, müsste die Stadt viel mehr konsum-
freie Verweilorte zur Verfügung stellen.
Zum Beispiel am Wiener Naschmarkt,
wo es abgesehen von den Lokalen keine
einzige Sitzgelegenheit gibt.
Woher kommt die Sehnsucht nach
Entschleunigung im öffentlichen Raum?
Menschen haben immer weniger Zeit
und wollen diese sinnvoll nutzen. In der
Stadt zur Ruhe zu kommen ist ein Aus-
gleich zum beschleunigten Alltag, zur
Hektik, die sich durch viele Lebensbe-
reiche zieht. Dort noch schnell etwas
erledigen, da noch schnell einkaufen:
Für Baur bedeutet Entschleunigung im
öffentlichen Raum weniger Stress, mehr
Platzangebote zum konsumfreien Ver-
weilen, weniger Lärm und weniger er-
zwungene Achtsamkeit – dass man also
nicht ständig darauf achten muss, ob im
nächsten Moment ein Auto um die Ecke
rast. Nico geht einen Schritt weiter, für
ihn ist die Frage nach Entschleunigung
im öffentlichen Raum zugleich eine Fra-
ge der Aneignung – eine Art Rückerobe-
rung des von Autoverkehr und Wirt-
schaft eingenommenen Raumes, der ei-
gentlich jedem und jeder gehört.
Tatsächlich verwandelte die Massen-
produktion von Autos seit den 1920er-
Jahren öffentliche Ruheorte in lärmende
Verkehrsknotenpunkte. Die Zentren
wurden zu Orten der Beschleunigung,
mit dem Ziel, Straßenräume möglichst
Irene Steindl
Freie Journalistin B U C H T I P P
Stadtentwicklungs-
plan 2025
MA 18 – Stadtentwicklung
und Stadtplanung
143 Seiten, 2014,
ISBN: 978-3-902576-89-7
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