Arbeit&Wirtschaft 9/2015 17Schwerpunkt
ser Schulform sei derzeit zu groß, um sie
in den nächsten Jahren zu realisieren.
Man müsse Schadensbegrenzung betrei-
ben, indem sozial benachteiligte Kinder
mittels bester Lernkultur gefördert wer-
den – und in Form einer gerechten Mit-
telzuteilung.
Bedarfsorientierte Mittelverteilung
Soziale Brennpunktschulen brauchen
mehr finanzielle Ressourcen, fordert Bil-
dungswissenschafterin Nagy und plädiert
wie Arbeiterkammer und OECD (2012)
für eine bedarfsorientierte Mittelvertei-
lung. Die Idee dahinter: Schulen mit
mehr sozial benachteiligten Kindern er-
halten mehr Ressourcen, da sie unter
schwierigeren Bedingungen arbeiten und
mehr Aufwand als gut funktionierende
Schulen haben. „Manchmal braucht es
Ungleichheit, um Gleichheit zu erzeu-
gen“, sagt Nagy. Derzeit spielt die Zu-
sammensetzung der SchülerInnenschaft
einer Schule bei der Verteilung von Per-
sonal- und Sachaufwand kaum eine Rol-
le. In einigen Kantonen der Schweiz, in
Teilen Deutschlands und in den Nieder-
landen ist die bedarfsorientierte Mittel-
verteilung längst gang und gäbe. „Das
Geld, das wir heute in Bildung einsparen,
investieren wir morgen in Gefängnisse“,
bringt es die Rektorin der Rütli-Schule
Cordula Heckmann auf den Punkt. Und
das scheint, angesichts der Chronik ihrer
Schule, nicht einmal dramatisierend.
„Ich unterstelle jeder Lehrperson,
dass sie einen möglichst guten Unter-
richt halten will. Aber wenn sie mit so
vielen Problemen befasst ist, kommt das
Lernziel zu kurz“, erklärt die Bildungs-
wissenschafterin. Am Campus Rütli hat
man gute Lösungen gefunden. Vor Ort
kümmern sich SchulpsychologInnen
und SozialpädagogInnen um die Anlie-
gen der SchülerInnen. Damit werden
die Probleme aus dem Unterricht ge-
nommen, die LehrerInnen können sich
auf ihre Lehrziele konzentrieren und
werden entlastet. Eine gute Bildungsre-
form setze auch bei der Ausbildung und
Auswahl der Lehrkräfte an, betont Nagy.
In Rütli habe die neue Schulleitung ge-
sagt: „Da kommt jetzt Arbeit auf uns zu
– schulinterne Fortbildungen, Arbeit an
Wochenenden. Wer das nicht mittragen
will, soll lieber gehen.“ Ein Drittel des
Lehrpersonals hat die Schule verlassen.
Beste Lehrpersonen
Die gemeinsame Unterrichtsentwicklung
hat dazu geführt, dass die SchülerInnen
nun deutlich bessere Leistungen erbrin-
gen. Heute gehören zum Kollegium in
Rütli auch türkische und arabische Leh-
rerInnen, die die Sprache der SchülerIn-
nen sprechen. Vor allem aber, meint
Nagy, sollten an Schulen in sozialen
Brennpunkten nur die besten Lehrperso-
nen unterrichten, die es schaffen, auch
leistungsschwachen Kindern Freude am
Lernen zu vermitteln.
Am Campus Rütli setzt man auf
neue Lernkultur und Personalisierung,
das heißt, Kinder entsprechend ihrer
Möglichkeiten zu fördern und zu for-
dern. Bestenfalls holt man dazu die El-
tern mit ins Boot. Die Rütli-Schule hat
das mit zum Erfolg geführt. Interkultu-
relle ModeratorInnen vermitteln den
Kontakt zu den meist türkischen und
arabischen Eltern, sie begleiten Lehre-
rInnen bei Hausbesuchen und dolmet-
schen bei Elterncafés.
Eine Wende ist möglich
Im Jahr 2014 haben die ersten Schüle-
rInnen in Rütli das Abitur gemacht. Etwa
fünf Prozent der Kinder verließen die
Schule ohne Abschluss – vor neun Jahren
waren es noch knapp 20 Prozent. Dazu
muss gesagt werden, dass die Zusammen-
setzung der SchülerInnenschaft unverän-
dert ist: 86 Prozent der etwa 900 Jugend-
lichen haben Migrationshintergrund,
rund 80 Prozent der Familien leben von
staatlichen Transferleistungen. Die sozi-
ale Durchmischung verändert sich aber
bereits in den unteren Klassen. Laut Rek-
torin Cordula Heckmann sei es nur eine
Frage der Zeit, bis der Wandel alle Jahr-
gänge erreicht.
Nach dem Aufschrei der Schulleitung
vor neun Jahren hat sich die Gesellschaft,
nicht nur die Schule, die Frage gestellt:
Wohin führt es, wenn wir soziale Brenn-
punktschulen verkümmern lassen? Diese
Diskussion wünscht sich Gertrud Nagy
auch für Österreich. „Wollen wir jahre-
lang mit unserem Steuergeld für Maß-
nahmen zur sozialen Eingliederung zah-
len, nur weil die Politik verabsäumt, allen
Jugendlichen gute Chancen zu bieten?“
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Immer mehr Schulen in Österreich werden
zu sozialen Brennpunktschulen wie einst Rütli.