Zum Haareraufen!
E
s war im Sommer vor ein paar Jah-
ren, als ich bei einer Feier einer
Flüchtlingsberatung einem afrika-
nischen 13-Jährigen mit den Wor-
ten vorgestellt wurde: „Der geht’s gut, die
war grad an einem See in Kärnten auf
Urlaub.“ Ohne zu zögern fragte er: „Dem
mit der Insel?“ Lachend antwortete ich:
„Nein, nicht am Wörthersee“, bass er-
staunt über die geografischen Kenntnisse
des jungen Mannes. Es sollte nicht die
einzige Überraschung bleiben, denn als
Nächstes stellte er mir die eher rhetorische
Frage, ob ich eigentlich wisse, wie Inseln
entstehen, um es mir stolz zu erklären.
Gut, dass die Insel im Wörthersee wohl
anders entstanden ist als jene im Meer,
von denen er sprach, darüber sollte man
wohlwollend hinwegsehen. Die eigent-
liche Überraschung nämlich kommt erst:
Der aufgeweckte junge Mann war Son-
derschüler. Eine Betreuerin erzählte mir
später von Lausbubenstreichen, die er sich
immer wieder erlaubte. Eines Tages wur-
de es zu bunt, weshalb sie ein ernstes Ge-
spräch mit ihm führen musste.
Zu viele in falschen Schulen
Auf ihre Frage, warum er das denn tue,
antwortete er keck: Weil er in einem an-
derem Raum an einen Computer gesetzt
wird, wo er dann in Ruhe im Internet
surfen kann. Es ist vielleicht unnötig, sei
aber dennoch angemerkt: Er spricht fast
Sonja Fercher
Chefin vom Dienst
Standpunkt
©
Ö
GB
-V
er
la
g/
Pa
ul
S
tu
rm
perfekt Deutsch. Diese Begegnung geht
mir seit damals nicht mehr aus dem Kopf.
Denn im Grunde ist sein Bildungsweg
fast schon symbolisch für das, was im ös-
terreichischen Bildungssystem falsch
läuft: Nicht nur zu viele MigrantInnen
landen in Schulen, in denen sie eigentlich
nichts verloren haben, vielmehr landen
insgesamt zu viele Kinder in falschen
Schulen.
Seit einer gefühlten Ewigkeit ist be-
kannt, was der größte Missstand im ös-
terreichischen Bildungssystem ist: die
soziale Selektion. Ja, es ist ein Missstand,
denn wie anders sollte man es nennen,
wenn die Fähigkeiten einer sehr großen
Zahl an Kindern und jungen Menschen
schlichtweg ignoriert werden? Dass ih-
nen allein aufgrund des Bildungsstands
und des Verdiensts ihrer Eltern nicht die
ganze Bandbreite an Bildungswegen of-
fensteht? Ebenfalls seit einer ebenso ge-
fühlten Ewigkeit ist bekannt, was die
wichtigsten Maßnahmen sind, um die-
sem Missstand zu begegnen: die gemein-
same Schule zumindest bis 14 Jahre und
Ganztagsschulen.
Ich finde es zum Haareraufen, dass
nicht die Fähigkeiten, Begabungen und
Interessen der Kinder darüber entschei-
den, welchen Bildungsweg sie gehen. Es
ist zum Haareraufen, dass die Auswahl
der Schule im zarten Alter von zehn Jah-
ren stark vorherbestimmt, welchen wei-
teren Bildungsweg die Kinder gehen. Ich
finde es zum Haareraufen, dass die Neue
Mittelschule nicht so umgesetzt wird,
wie sie sinnvoll wäre: Als gemeinsame
Schule der Zehn- bis Zwölfjährigen, die
endlich mit der unsinnigen sozialen Se-
lektion Schluss macht. Ich finde es zum
Haareraufen, dass man ausgerechnet in
der Bildung mit Labels hantiert: Da wird
einer Hauptschule das Label Neue Mit-
telschule verpasst, um der Form zu ent-
sprechen, dort wird das Label Gymnasi-
um zum Erhalt eines Statussymbols miss-
braucht, obwohl man damit die Selekti-
vität des österreichischen Bildungssystems
manifestiert.
Auf dem Rücken junger Menschen
„Aber es geht doch was weiter“, war in
letzter Zeit öfters zu lesen. Vieles davon
geht auch durchaus in die richtige Rich-
tung. Allerdings ist es mir absolut unver-
ständlich, weshalb die gemeinsame Schu-
le der 10- bis 14-Jährigen nicht schon
längst Standard ist. Auch das kann man
nur als Missstand bezeichnen, denn da-
mit werden die eindeutigen wissenschaft-
lichen Ergebnisse zahlreicher Studien seit
Jahren schlichtweg ignoriert – und das
auf dem Rücken von jungen Menschen,
die dadurch um ihre Chancen gebracht
werden und im schlimmsten Fall, wie je-
nem des junge Afrikaners, versumpern,
statt gefördert zu werden. Und das ist und
bleibt zum Haareraufen!