18 Arbeit&Wirtschaft 3/2019 19Arbeit&Wirtschaft 3/2019
Arbeit&Wirtschaft: Der Neoliberalis-
mus will uns lehren, dass jeder Mensch
selbst seines Glückes Schmied sei. Brau-
chen Belegschaften in so individuali-
sierten Zeiten noch kollektive Organi-
sierung und BetriebsrätInnen?
Georg Michenthaler: Zeitgemäß sind
Betriebsräte auf jeden Fall. Doch vieles
ist schwieriger geworden. Die Arbeits-
welt und Arbeitsprozesse haben sich ver-
ändert. Die Arbeit wird selbstbestimm-
ter und weniger disziplingesteuert, es
zählt das Ergebnis. Das fördert die In-
dividualisierung. Es gibt heute viele un-
terschiedliche Erwartungen, und damit
wird es oft schwieriger, kollektive Inte-
ressen zu identifizieren und zu vertreten.
Wo sehen Sie solche unterschiedlichen
Erwartungen?
Früher war beispielsweise die gewünsch-
te Arbeitszeit im Durchschnitt deutlich
höher als heute. Da waren Überstunden
ein wesentlicher und oft notwendiger
Teil des Einkommens. Für jüngere Men-
schen ist es heute dagegen oft viel wich-
tiger, mehr Zeit mit Familie und Kindern
zu verbringen.
Gute Arbeitsbedingungen gewin-
nen gegenüber der Höhe des Einkom-
mens an Gewicht. Immer wichtiger
werden die Qualität der Arbeit, die Ge-
sundheit, die Nachhaltigkeit und das
Wohlbefinden. Arbeitszeitverkürzung
wäre daher heute eine weitgehend ak-
zeptierte Forderung. Eine Arbeitszeit-
verkürzung könnte auch die ungleiche
Geschlechterverteilung bei der Teilzeit-
arbeit reduzieren.
Wo gibt es heute in Österreich starke
Belegschaftsvertretungen und wo sind
die größten Baustellen?
Die stärksten Belegschaftsvertretungen
gibt es dort, wo die Organisierung am
besten möglich ist – Ursache und Wir-
kung sind da austauschbar –, also klas-
sisch in den großen Produktions- und
Dienstleistungsunternehmen.
Besonders gut organisierte Bereiche
sind der öffentliche Dienst, die Indus-
trie, der großbetriebliche Bausektor,
Banken und Versicherungen sowie große
Hilfsorganisationen und Handelsketten.
Im Gewerbe wird es schon schwieriger.
Eine ziemlich schwache Organisierung
gibt es etwa in der Gastronomie oder ge-
nerell im kleinbetrieblichen Dienstleis-
tungssektor. Das sind auch Branchen, in
denen viele Frauen, viele Teilzeitbeschäf-
tigte und viele MigrantInnen arbeiten.
Wo Arbeitskräfte aufgrund des Qua-
lifikationsniveaus über wenig Arbeits-
marktstärke verfügen und leicht aus-
tauschbar sind, ist auch die Interessen-
vertretung schwieriger.
Eine zunehmende Baustelle sind die
vielen neuen quasiselbstständigen Be-
schäftigungsverhältnisse, die sogenannte
„Gig-Economy“. Das sind oft temporäre
Jobs, wo Beschäftigte kaum zu organi-
sieren sind. Und dann gibt es auch Be-
reiche mit einer sehr individualistischen
Mentalität, etwa viele Start-ups.
Georg Michenthaler vom IFES forscht seit Jahren
zur Arbeitswelt. Betriebsräte sind für ihn auch
in der individualisierten Welt noch zeitgemäß.
Arbeitszeitverkürzung wäre eine weitgehend
akzeptierte Forderung.
Interview: Michael Bonvalot
Fotos: Christian FischerGute Arbeit
gewinnt an Gewicht
INTERVIEW
Georg Michenthaler ist wissenschaftlicher Projektleiter
am Institut für empirische Sozialforschung (IFES).
Erstmals Mitglied der Gewerkschaft wurde er 1972 als
Ferialarbeiter beim Kraftwerksbau, bei IFES war er
später auch Betriebsratsvorsitzender. Michenthaler hat
den österreichischen Arbeitsklimaindex (www.arbeits-
klimaindex.at) der Arbeiterkammer Oberösterreich mit-
entwickelt, der seit mehr als 20 Jahren erhoben wird.