Full text: 100 Jahre ganz Ohr (3)

12 Arbeit&Wirtschaft 3/2019 13Arbeit&Wirtschaft 3/2019 J ugendvertrauensrätin zu werden war die beste Entscheidung, die ich tref- fen konnte“, sagt die 23-jährige Eli- sabeth Kerndl im Gespräch mit der Arbeit&Wirtschaft. Eloquent, kritisch und engagiert: Das sind die Eigenschaf- ten, die die junge Frau unbestritten cha- rakterisieren. Sie nimmt einen Schluck Espresso und strahlt über das ganze Ge- sicht. „Ich bin richtig froh, dass mich meine Betriebsrätin damals darauf ange- sprochen und mich ermutigt hat, diese Aufgabe zu übernehmen.“ Seit 2017 ist die sympathische Wie- nerin – im Waldviertel aufgewachsen – nun Jugendvertrauensrätin bei einer Buchhandelskette am Westbahnhof. Dort hat sie die Lehrausbildung „Buch- und Medienwirtschaft“ absolviert und vertritt mit zwei weiteren KollegInnen die Interessen von rund 90 Lehrlingen. Wie man die Aufgabe angeht, sei eine persönliche Sache, das mache jeder an- ders. In Elisabeths Fall kommt hinzu, dass die Lehrlinge in den einzelnen Fili- alen über ganz Österreich verstreut sind. Das macht das Kontakthalten schwieri- ger. Die Herausforderung dabei ist: „Wie kann ich das Vertrauen der Ju- gendlichen gewinnen, die ich nur sehr selten sehe?“ Freude über Verbleib Noch vor wenigen Monaten wollte die Regierung den Jugendvertrauensrat ab- schaffen. Die Anliegen der Jungen könn- ten vom Betriebsrat mitvertreten werden, so die Argumentation. Doch dann kam Anfang Februar die positive Nachricht: Der Jugendvertrauensrat soll bleiben. Für die Österreichische Gewerkschaftsjugend (ÖGJ) war das ein Tag zum Feiern. Mit der großen Kampagne „JVR bleibt“ ha- ben Hunderte engagierte Jugendliche – so auch „Lisi“, wie sie ihre FreundInnen nennen – über ein Jahr lang für den Er- halt des Jugendvertrauensrats gekämpft. Sie haben Gespräche mit MinisterInnen geführt, Menschen auf der Straße und im Betrieb darüber aufgeklärt, was der Ju- gendvertrauensrat ist, und mehr als 40.000 Unterschriften gesammelt. Erleichterung und Freude kamen zu- sammen. Denn hätte die Regierung ih- ren Plan, den Jugendvertrauensrat abzu- schaffen, umgesetzt, hätte es Menschen wie Elisabeth, die sich für die Interessen der jungen KollegInnen stark machen, in den Betrieben bald nicht mehr gege- ben. Mehr als 3.000 Jugendvertrauens- räte kümmern sich österreichweit um die Anliegen der Lehrlinge und verbes- sern die Ausbildung im Betrieb weiter. Sie haben nicht nur ein offenes Ohr für private und betriebliche Sorgen, son- dern können Situationen abfangen, be- vor sie zu Problemen werden. Auch viele Firmen wissen, was sie am Jugendver- trauensrat haben. Die Drogeriemarkt- kette DM beispielsweise schätzt es, ge- meinsam mit dem Jugendvertrauensrat Themen zu diskutieren und die Organi- sation weiterzuentwickeln. Gewerkschaftlicher Grundstein Vertrauen gewinnt man, indem man ehr- lich auf die Leute zugeht, zuhört und Hilfe anbietet. „Aber ohne Informations- beschaffung kann ich nicht arbeiten. Da zähle ich auch die eigene Bildung dazu“, so die 23-jährige Elisabeth Kerndl. Bil- dung ist der gewerkschaftliche Grund- stein für alles, was man machen will, ist sie sicher. „Denn frei nach Goethe: ‚Man sieht nur, was man weiß.‘ Nur wenn man schon ein bisschen Vorbildung hat, merkt man im persönlichen Gespräch, ob es rechtlich wo hakt“, weiß sie aus eigener Erfahrung. Der Jugendvertrauensrat bleibt, aber zu verbessern gebe es noch einiges. Ein großes Problem ist das irrsinnig kleine Kontingent an Freistellungen, das ein Jugendvertrauensrat hat. Nur zwei Wo- chen für die Funktionsperiode von zwei Jahren stehen einem zu. Wer die Funkti- on ernst nimmt und sich für die betrieb- liche Arbeit weiterbilden will, kommt damit nicht aus. „Da hat man einen Grundkurs für Jugendvertrauensräte, ei- nen Aufbaukurs, interne JVR-Meetings, Betriebsratssitzungen, externe JVR- Meetings. Und da sind die KV-Ver- handlungen noch gar nicht dabei“, zählt Lisi die vielfältigen Herausforderungen auf, die während der kurzen Freistellung kaum zu bewältigen sind. Für sie war es schwierig, die Kollektivvertragsverhand- lungen mit der Arbeit zu kombinieren, auch wenn sie viel Unterstützung von ihrer Chefin bekommt. „Es hemmt auch, denn wenn man es ernst nehmen und die Probleme lösen will, kostet das Zeit. Und das ist auch zum Vorteil der Arbeitgeber.“ Jede Verhandlung ist anders Kollektivvertragsverhandlungen bedeu- ten intensive Vorbereitung. „Ich habe auch noch nach der Arbeit intensiv re- cherchiert, um vorbereitet zu sein“, er- zählt die Buchhändlerin. „Aber das Ge- fühl, fertig zu sein, hatte ich nie. Wo- möglich auch deswegen, weil jede Ver- handlung anders ist.“ Letztes Jahr war sie zum ersten Mal dabei und durfte die 15.000 Lehrlinge im Handel vertreten. Durchschnittlich acht Prozent mehr Lehrlings entschädigung, Anspruch auf die 4-Tage-Woche und mehr haben die Verhandlungen für die Beschäftigten ge- bracht. „Es war sehr inspirierend zu se- hen, wie sich die Gewerkschaft für die ArbeitnehmerInnen einsetzt. Das habe ich so noch nie erlebt.“ Schon jetzt bereitet sie sich für die nächsten Verhandlungen im Herbst vor, um sich zu sammeln und mit mög- lichst vielen Leuten zu reden. „Das muss ich, weil ich nicht für 15.000 Menschen sagen kann, was sie wollen. Da ist der eigene Tunnelblick, da sind die eigenen Bedürfnisse, die man nicht in den Vordergrund stellen will. Und man will ja niemanden auslassen.“ Sie will den Leuten auch nicht zu viel Hoffnung machen, weil der Verhand- lungsspielraum begrenzt ist. Es sei ein Spagat zwischen dem eigenen Idealis- mus, zwischen dem, was man gerne hätte, und dem, was man wirklich durchsetzen kann. Ruhig bleiben Ob in der betrieblichen Arbeit, in der allgemeinen Gewerkschaftsarbeit oder bei Kollektivvertragsverhandlungen – das Um und Auf ist, Ruhe zu bewahren. Wer sich aufregt und aus der Ruhe bringen lässt, spielt den Arbeitgebern in die Hän- de. „Am Verhandlungstisch fallen Aussa- gen von Arbeitgebern, die einen sehr be- wegen und wütend machen, die so res- pektlos gegenüber den Beschäftigten sind, dass man fast nicht ruhig bleiben kann“, schildert sie ihre ersten Erfahrun- gen bei KV-Verhandlungen. Dankbar ist sie dennoch, historisch wie global gesehen, dass man mit Ar- beitgebern überhaupt am Tisch sitzen könne, um über rahmenrechtliche oder monetäre Forderungen zu reden. „Das ist eine Besonderheit, die auch unbe- dingt erhalten bleiben muss. Aber wirk- lich zufrieden ist man halt nie“, erzählt sie selbstkritisch. Grundsätzlich gilt: Je breiter die Zustimmung der Bevölke- rung, umso wirkungsvoller kann die Gewerkschaft verhandeln, und der Or- ganisationsgrad bestimmt schlussend- lich das Verhandlungsergebnis mit. „Kurz gesagt: Es müssen alle Räder inei- nandergreifen.“ Kritisch sein und bleiben Als Interessenvertretung im Betrieb sieht Kerndl ihre Aufgabe auch darin, einen positiven Einfluss auf Jugendliche auszu- üben und die nächste Generation mög- lichst kritisch heranzuziehen. Damit sie reflektieren und nicht alles so hinneh- men, wie es ist. Die Jugendversammlun- gen widme sie meist einem Thema, so wie etwa der Medienlandschaft in Öster- reich und deren Besitzverhältnissen – da- mit den angehenden BuchhändlerInnen das Boulevard-Niveau mancher Zeitun- gen und der politische und kirchliche Einfluss auf manche Medien bewusst wird. Das Problematische bei den kom- menden Generationen und auch bei ihrer eigenen sei, dass vieles als selbstverständ- lich hingenommen werde. Erst wenn die Dinge zu wackeln beginnen, sehe man, was alles kippen kann, reflektiert sie. Auch der 12-Stunden-Tag ist eine mögli- che Einschränkung für BetriebsrätInnen. Denn je ausgelaugter die Leute durch die Arbeit sind, umso weniger können sie sich für die Beschäftigten einsetzen oder sich gesellschaftlich engagieren. „Das kommt der Wirtschaft genauso zugute wie der 12-Stunden-Tag, und das müssen wir verhindern. Wir arbeiten, um von et- was leben zu können, und müssen daher einen großen Teil unserer Zeit am Ar- beitsplatz verbringen. Deshalb ist es mein Ziel, diesen möglichst sinnvoll, ange- nehm und bereichernd für die Beschäf- tigten zu gestalten.“ Weitere Informationen: www.oegj.at Weiterbildungsangebote: www.voegb.at Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin barbara.kasper@oegb.at oder an die Redaktion aw@oegb.at Barbara Kasper ÖGB-Kommunikation HeldInnen von heute und morgen Auch in Zukunft werden JugendvertrauensrätInnen wie Elisabeth Kerndl die Interessen der Lehrlinge in ihrem Betrieb vertreten. Fo to : © R ol an d de R oo

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