KONSUMGENOSSENSCHAFTEN
IN DER KRISE
Rezension von: Johann Brazda, Der
Rechtsformwandel bei Genossen
schaften - am Beispiel der deutschen
Konsumgenossenschaften; Robert
Schediwy, Probleme des föderativen
Verbundes der Konsumgenossen
schaften in Frankreich, Wiener
Studien des Forschungsinstitutes für
Genossenschaftswesen, Band 7 ,
Eigenverlag des FOG, Wien 1991 ,
184 Seiten, öS 88,-.
Der größte Wirtschaftsprozeß der
deutschen Rechtsgeschichte wurde zu
Jahresbeginn in Frankfurt gegen ehe
malige Manager der coop-Gruppe
eröffnet. Gegenstand der Anklage sind
unter anderem Bilanzfälschung, Un
treue und Kreditbetrug. Die Verant
wortlichen französischen Konsumge
nossenschaften hingegen begingen ein
in der Öffentlichkeit wenig beachtetes
"stilles Begräbnis" . Sie hatten die
Zentralinstitutionen sowie mehrere
Regionalgenossenschaften ohne evi
dente persönliche Bereicherungsab
sicht in den Ruin manövriert.
Der Zusammenbruch der Konsum
genossenschaften in Deutschland und
Frankreich signalisiert das drohende
Ende einer Idee, die in der zweiten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts als
Produkt des Wandels zur modernen
Industriegesellschaft ihren Anfang
nahm: Vor dem Hintergrund des ge
sellschafts- und wirtschaftspoliti
schen Liberalismus sahen sozialrefor
merische Vordenker in den Konsum
und Kreditgenossenschaften eine
Selbsthilfe zum Aufbrechen der Ab
hängigkeiten der unterprivilegierten
Arbeiterbewegung. In dem Jahrhun
dert ihres Bestehens waren die Genos-
sensehaften einem ständigen struktu
rellen Anpassungsdruck ausgesetzt.
Einerseits zwangen die weltgeschicht
lichen Ereignisse zur Neuorientierung;
andererseits erforderte die Dynamik
der wirtschaftlichen Entwicklung
nicht nur Reaktionsschnelligkeit, son
dern vielmehr auch Antizipation
zukünftiger Markttrends. Offensicht
lich vermochten die meisten genossen
schaftlich organisierten Unternehmen
auf einen Wandel der politischen Rah
menbedingungen - etwa die Nah
rungsmittelrationierung während der
Weltkriege - weitaus effizienter - zu
reagieren als auf ökonomische Verän
derungen. Eine aktuelle Rundschau
über Europa eröffnet ein weitgehend
düsteres Bild: Das Überleben der Kon
sumgenossenschaften scheint nur in
jenen Ländern gesichert, in denen die
politische Willensbildung einen ge
schützten Markt für den Einzelhandel
aufrechterhält (z. B. Italien). In ande
ren Ländern befinden sich Genossen
schaften mehr oder minder konsoli
diert in der Phase eines geordneten
Rückzuges - ein Szenario, das derzeit
für Österreich gilt. In führenden Indu
strienationen, beispielsweise in Belgi
en und den Niederlanden, haben die
Handelsgenossenschaften überhaupt
aufgehört zu existieren. Die histori
sche Entwicklung der Konsumgenos
senschaften in Deutschland und
Frankreich bis zu ihrem Untergang
bildet den Inhalt der beiden in diesem
Band veröffentlichten Studien.
Im ersten Kapitel seiner Untersu
chung der deutschen Genossenschafts
bewegung geht Brazda auf die unter
schiedlichen ideologischen Positionen
ein, die zum Entstehen der ersten bür
gerlichen und sozialdemokratisch ori
entierten Selbsthilfeorganisationen
geführt hatten. In diese Periode fallen
auch der Gründungsboom, die Bildung
von zentralen Institutionen sowie der
Ausbau der Eigenproduktion. Den
größten Aufschwung ihrer Geschichte
verzeichneten die deutschen Konsum
genossenschaften während ihrer Ein-
265