Wirtschaft und Gesellschaft
- die Mao-Bibel und die Phrasen der
,Besatzer' von ,drüben', der DDR, an
gereichert mit unbürgerlichem Habitus
und amerikanischer ,Negermusik' . "
(S. 87 ) Leider blieb es nicht immer so
harmlos: "Die aus dem beliebten Che
Guevara-Poster abgeleitete Verwechs
lung von Urwald und Bundesrepublik
verlängerte präpubertäres Räuber
und-Gendarm-Spiel in eine blutige
Tragödie. " (S. 89) Aber hinter den po
litischen Unsinnigkeiten verbargen
sich Modernisierungs- , Individualisie
rungs- und Informalisierungsschübe:
die voranschreitende Freisetzung aus
familiären Bindungen und sozialen Mi
lieus, aus religiösen und arbeitsethi
schen Verpflichtungen, aus festgefüg
ten Mustern des Geschlechterverhält
nisses, die Absetzung von der Elternge
neration und dem Nachkriegsamerika
nismus. "Wer heute die Exzesse des an
tiautoritären Gestus beklagt, sollte die
Anmerkung nicht vergessen, daß die
Abkehr vom alten autoritären Erzie
hungsstil der Eltern auch der wüten
den Erkenntnis geschuldet war, daß
Disziplin und Gratifikationsaufschub,
die ganzen Selbstverkrüppelungen und
-beschränkungen, die alten verstaub
ten Sekundärtugenden, sich einfach
nicht mehr lohnten. " (S. 101) Ange
sichts von Massenuniversitäten und
Entprivilegierungen galt es, "der Aus
sicht, sich als arbeitsloser Akademiker
durchs Leben schlagen zu müssen, die
höheren Weihen einer radikal antibür
gerlichen eigenen Entscheidung zu
verleihen" (S. 100).
7 . Wie läßt sich - zusammenfassend
die Bundesrepublik beschreiben? Es
ist ein Land (und man kann dabei
durchaus auch an Österreich denken),
das es sich "im Schutz des Eisernen
Vorhangs zwischen Betroffenhei tskul t
und Lebenswelt bequem gemacht hat
te, deren Bürger, sympathisch und
weltfremd, beträchtlichen Wohlstand
mit hoher Moral zu verbinden gelernt
hatten und deren Politiker sich am
liebsten zwischen Provinz und Europa
aufhielten - also im Niemandsland"
218
21 . Jahrgang (1 995), Heft 1
(S. 15) ; es ist "ein Puppenhaus im
Wohlstandstango, bevölkert von
Märchenprinzen, Quotenfrauen und
Peaceniks" (S. 23), mit einer pragmati
schen Regierung im "vorauseilenden
Populismus" (S. 25); in den Achtzigern
war es, nach dem Abstreifen jeder
Untertanenmentalität und jedes
obrigkeitsstaatliehen Denkens, fast
ein "Habermassches Diskursparadies"
(S. 27), zugleich aber ein Land von
"abgrundtiefer Rüpelhaftigkeit" und
"misanthroper Grundstimmung"
(S. 63 f.) . Und weiters, was auf Öster
reich wohl weit weniger zutrifft, fin
den wir in Deutschland eine Gesell
schaft, die in ihrer protestantischen
Innerlichkeit glaubt, auf einem "em
phatischen Gemeinschaftsbegriff"
bauen zu müssen (S. 69) ; das Land der
vollentwickelten Neuen Bescheiden
heit (S. 80) und der aus schuldbela
dener Erinnerung gespeisten "Wach
samkeit und Widerstandsbereitschaft
rund um die Uhr" (S. 102); das "post
nationalistische Dorfgemeinschafts
haus" (S. 123) ; ein Land, in dem sich
alle zu Opfern stilisieren (S. 1 15).
8. Cora Stephan hat Richard Sennets
"Tyrannei der Intimität" , Gerhard
Schulzes "Erlebnisgesellschaft" , Nor
bert Elias' "Studien über die Deut
schen" , Helmuth Plessners "Grenzen
der Gemeinschaft" und dergleichen
einschlägige Lektüre mit Gewinn hin
ter sich gebracht. Was sie bietet, ist ein
Essay, keine Analyse; eher Zeitge
schichtsschreibung als Sozialwissen
schaft; eher Streitschrift als nüchterne
Darstellung. Man wünscht sich öfters
eine derartige journalistische Aneig
nung soziologischer Befunde. Denn
insgesamt trägt die Autorin in einer
Situation, die durch die Intimisierung
der Politik, durch Gefühligkeit statt
Argumentation, durch emotionale An
sprechbarkeit statt argumentativer
Überzeugung gekennzeichnet ist, ein
"unzeitgemäßes Plädoyer für die Wie
dergewinnung der Dimension des Po
litischen" vor.
Manfred Prisehing