24. Jahrgang ( 1 998), Heft 4
Ein deutscher Sonderweg in der
Nationalökonomie
Rezension von: Hauke Janssen,
Nationalökonomie und
Nationalsozialismus. Die deutsche
Volkswirtschaftslehre in den dreißiger
Jahren, Metropolis-Verlag, Marburg
1998, 662 Seiten.
ln der Literatur zum Nationalsozialis
mus wird immer wieder behauptet, daß
die Entwicklung, die zu diesem führte,
eine typische deutsche gewesen sei,
und daß man also in Hitlers Machtüber
nahme das logische Ergebnis der deut
schen Geschichte zu sehen hätte. Die
se These wird sowohl - und oft genug
parallel - für den politischen Verlauf als
auch für die Geistesgeschichte vertre
ten .
Mit der vorliegenden Publikation soll
nun ein dogmengeschichtlicher Beitrag
zur Klärung der These vom deutschen
Sonderweg in den Sozialwissenschaf
ten geleistet werden. Gab es überhaupt
eine nationalsozialistische Wirtschafts
lehre, in welchem dogmengeschichtli
chen Kontext haben wir sie gegebenen
falls zu verstehen, und welchen Einfluß
übte sie möglicherweise auf die Ent
wicklung in den dreißiger Jahren aus?
War darüber hinaus die unter der Ägide
des Nationalsozialismus vorherrschen
de ökonomische Lehre das 'logische
Resultat' einer länger angelegten Son
derentwicklung in der deutschen Volks
wirtschaftslehre , wie es etwa manche
der nach Hitlers Machtergreifung abge
legten Bekenntnisse zu Führer, neuem
Staat und 'deutscher Lehre' nahele
gen? Es geht damit Janssen weniger
um die aus heutiger Sicht bahnbre
chenden Leistungen und objektiven
Fortschritte der Diszipl in , wie sie eine
Wirtschaft und Gesellschaft
Economic Theory in Retrospect oder
eine Geschichte der ökonomischen
Analyse beschreiben würden, sondern
um damals wichtige Lehren und ihre
Verhältnis zur nationalsozialistischen
Ideologie und Herrschaft.
Lange standen der intensiven Be
schäftigung mit dem nationalsozialisti
schem Wirtschaftsdenken nicht nur Be
rührungsängste mit einem unheilvollen
Kapitel der Vergangenheit im Wege,
sondern auch die abfälligen Urtei le, die
über dessen Wert gefällt worden sind.
Die Ökonomen, so faßte der Wirt
schaftshistoriker Wolfram Fischer den
Stand der Forschung Ende der sechzi
ger Jahre zusammen , lehnen es ab,
von einer "eigenen Wirtschaftslehre des Nationalsozialismus" zu sprechen,
weil diese nie über ein "Konglomerat konfuser Ideen" hinausgekommen sei
(1 ). Viele Zeitzeugen sahen es kaum
anders. "Der geschulte Volkswirt konnte sich auch den sogenannten Wirt
schaftsprogrammen der Nazis gegen
über nur eindeutig verhalten. Die Wi
dersprüche, Sinnlosigkeiten, die schie
re Dummheit", so Toni Stolper, schie
nen "offenkundig, daß man sich fast des Denkaufwandes zu schämen hatte,
den man ihrer Kritik widmete" (2). Mitt
lerweile hat die historische Analyse na
tionalsozialistischen Wirtschaftsden
kens Fortschritte gemacht. Dabei hat
sich die Diskussion nationalsozialisti
scher Wirtschaftslehren weit von dem
vernichtenden Urteil Wolfram Fischers
entfernt.
Ende der siebziger Jahre rechtfertig
te Avraham Barkai für den Nationalso
zialismus "den Begriff eines neuen und eigengearteten Wirtschaftssystems",
auch wenn vieles bei "früheren oder zeitgenössischen Theoretikern und
Ideologen 'entliehen' oder 'angeeignet'
war" (3). ln den neunziger Jahren hat
das 'Pendel des Urteils' über das natio
nalsozialistische Wirtschaftsdenken, so
Herbst, seinen "extremsten, weit von der relativen Vorsicht Barkais entfern-
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