Wirtschaft und Gesellschaft 26. Jahrgang (2000), Heft 3
2. Ursachen des wirtschaftlichen Umschwungs
l n der ökonomischen U rsachenanalyse galten die E rfolge des "Polder
modells", um den von den Niederländern selbst geprägten Begriff zu benut
zen, 15 zunächst als Beleg dafür, daß angebotspolitische Maßnahmen - ins
besondere Lohnzurückhaltung, Sozialstaatsabbau, Deregulierungs- und
Privatisierungsmaßnahmen - den Königsweg zu mehr Wachstum und Be
schäftigung darstellten . 1 6 Hiermit war stets der Hinweis verbunden, daß
derartige Maßnahmen auch und gerade mit Blick auf die deutsche Entwick
lung erfolgversprechend seien. Es entspann sich ein bis heute anhaltender
Diskurs über die Ursachen des holländischen Erfolgs und die sich daraus
ergebenden wirtschaftspolitischen Konsequenzen. Während zunächst das
"Poldermodell" als beispielhaft auch für die deutsche Wirtschaftspolitik her
ausgestellt wurde, haben in jüngster Zeit skeptisc?ere Einschätzungen zu
genommen, 17 und zwar sowohl h insichtlich der Ubertragbarkeit als auch
mit Blick auf die langfristigen Folgen für die Niederlande selbst.
2.1 Sozioökonomische Rahmenbedingungen
Für den Beschäftigungserfolg der 1 990er Jahre in den Niederlanden läßt
sich eine Reihe von Gründen anführen. Von besonderer Bedeutung ist das
traditionell korporatistisch organisierte Verhandlungssystem. Bis in die
1 960er Jahre hinein galt die niederländische Gesellschaft als "versäult", be
stehend aus den vier Säulen Katholiken, kalvinistische Protestanten18 , So
zialisten und Liberale. Aufgrund der Dominanz dieser einflußreichen, jeweils
große Bevölkerungsgruppen repräsentierenden "pressure groups' hatte
sich ein auf Anhörung, Beratung und Verhandlung beruhendes Kom
munikations- und Koordinationssystem institutionalisiert, was für Günther
Schmid "wahrscheinl ich die wichtigste Erklärung für die niederländische
Erfolgsgeschichte darstellt."19
Die Notwendigkeit, Kompromisse zu finden, hat für die Niederlanden also
eine lange historische Tradition.20 Heute dominieren vor allem zwei Gremi
en den sozioökonomischen Diskurs, der "Sozialökonomische Rat"
(Sociaai-Economische Raad, SER) und die "Stiftung der Arbeit" (Stichting
van de Arbeid, SvdA) den Sozial- und Wirtschaftsbereich. Ohne deren Be
teil igung und Gutachten wurden Regierungsentscheidungen nicht getroffen
bzw. konnten im Falle des SER nicht getroffen werden. Während die 1 945
auf gemeinsame Initiative der Sozialpartner gegründete und paritätisch be
setzte "Stiftung der Arbeit" vor allem für die Lohnpolitik zuständig war und ist,
bi ldet der 1 950 gegründete und drittelparitätisch aus Arbeitgebern ,
Gewerkschaftsvertretern und unabhängigen, von der Regierung ernannten
Experten bestehende SER nach wie vor das oberste Beratungsgremium
der Regierung, auch wenn die Konsultationen seit 1 994 auf freiwi l l iger Ba
sis erfolgen.21 Bis dahin war die Regierung gesetzlich verpflichtet, vor der
Umsetzung wirtschafts- und sozialpolitischer Entscheidungen ein Gutach
ten des SER als dem "Spitzenorgan der n iederländischen Wirtschaft"22
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