3 1 . Jahrgang (2005), Heft 1
Der verfehlte Titel
Rezension von: Johannes Jetschgo, Ferdi-
nand Lacina, Michael Pammer, Roman
Sandgruber, Die verpasste Chance.
Österreichische Industriegeschichte
1 848- 1955, Ueberreuter, Wien 2004,
343 Seiten, € 48.
Die Österreichische I ndustriege
schichte GmbH hat nunmehr den zwei
ten Band ihres Projektes präsentiert,
auch dieses Mal hervorragend ausge
stattet, im gleichen Aufbau und mit
ebensolcher Akribie verfasst. 1 Freil ich
stößt sich der Leser diesmal am Titel.
Kam man mit jenem des ersten Ban
des - "Die gegebene Chance" -gut zu
recht, gerät man mit jenem des zwei
ten in Schwierigkeiten . Diese resultie
ren zunächst daraus, dass hier drei völ
l ig disparate Perioden zusammenge
fasst werden.
Da ist zunächst das "Silberne Zeital
ter" , also jenes, das bis zum Ersten
Weltkrieg im europäischen Verg leich
zwar etwas unterdurchschnittliches
Wirtschaftswachstum vermittelte, je
doch nach der Jahrhundertwende an
nähernd Vollbeschäftigung herbeiführ
te. Die Zwischenkriegszeit brachte
demgegenüber schwerste exogene
Schocks als Folge politischer Ereig
nisse. Nach Okkupation, Krieg und Zer
störung erstand Österreich aus den
Trümmern wieder und nahm - wohl
wollend unterstützt von den USA - den
Wiederaufbau mit solcher Vehemenz
in Angriff, dass 1 949 das Niveau von
1 937 erreicht und 1 955 bereits um
mehr a ls d ie Hälfte übertroffen wurde.
ln jener Phase schuf man einen Groß
teil jener Institutionen und Organisatio
nen, welche die Österreichische Wirt-
Wirtschaft und Gesellschaft
schaft charakterisieren und den Auf
stieg des Landes zu einem der reichs
ten Europas ermöglichten.
Man fragt sich daher, wo hier Zeit
übergreifende Chancen bestanden und
wer d iese nicht ergriffen hätte. Allen
falls könnte das noch für das letzte Drit
tel des 1 9. Jahrhunderts gelten, als das
Wachstum etwas hinter dem europäi
schen Durchschnitt zurückblieb. Aber
darüber erfährt man im Buch eigentlich
nichts. Am ehesten wäre der gemein
same Titel in Richtung eines "Zeitalters
der Brüche" verständlich gewesen, wie
das auch die Autoren implizit andeuten,
aber welche Chancen nicht erg riffen
wurden, bleibt weitgehend unbeant
wortet.
Die Charakteristika der
Österreichischen Wirtschaft
Nach einer knappen Zusammenfas
sung gehen die Autoren im Abschnitt
"Aspekte" daran, gemeinsame spezifi
sche Merkmale für diese disparate Pe
riode herauszuarbeiten . Eine Ambition,
die sie recht erfolg reich bewerkstel l i
gen und dabei viele relevante Details
aufzeigen. Nach einer plastischen Dar
stel lung des Wirtschaftsablaufes die
ser Periode wird auf das innovative Po
tenzial des Landes h ingewiesen und
die hervorragendsten Beispiele dafür
präsentiert. Leider fehlt darunter die Fir
ma Thonet. Sogar die amerikanische
wirtschaftshistorische Literatur hebt
nicht nur das Produkt der Bugholzmö
bel hervor, sondern auch die Organi
sation der Erzeugung, welche in den
USA nicht ihresgleichen hatte.
Im Kapitel über die Regionalentwick
lung wird betont, dass der "Wasser
kopf" Wien lange Zeit das bei weitem
größte I ndustriezentrum des Landes
darstellte, andererseits nach 1 945 ein
ganz neues von beträchtlichem Aus
maß in Linz entstand. ln jenem über
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