31. Jahrgang (2005), Heft 2 Wirtschaft und Gesellschaft
3.1 Verteilungseffekte und Lohnnivellierung
l n der einschlägigen Literatur wird übereinstimmend die Auffassung ver
treten, dass nur hoch zentralisierten Tarifsystemen ein Anreiz zu einer Po
l itik der Lohnnivel l ierung immanent ist. Für d iese Annahme finden sich
unterschied liche Erklärungen . Ein Hauptstrang der Argumentation geht
davon aus, dass mit dem Zentralisationsgrad das Einflussgewicht unter
scheidbarer I nteressengruppen variiert, wobei mit wachsendem Zentrali
sationsgrad jene Gruppen an Einfluss gewinnen, die N ivel lierungsinte
ressen vertreten. So weisen Freeman und Medoff (1984) darauf hin , dass
in Fragen der Lohnstruktur die I nteressen jener Arbeitnehmergruppen do
minieren , deren Lohn dem Median in der (Gruppen übergreifenden) Ver
tei lung der Löhne entspricht. Diese Gruppe ist bei gegebenem Durch
schnittslohn ebenso wie alle Arbeitnehmergruppen mit unterdurchschnitt
lichem Lohnniveau an einer Nivell ierung deshalb interessiert, weil in der
Regel der Medianlohn niedriger als der Durchschnittslohn ist. Durch d ie
se Konstel lation wird die tarifpol itische Orientierung an N ivellierungszie
len mehrheitsfähig. Dieser Zusammenhang gilt grundsätzlich für jeden Ta
rifvertrag unabhängig vom Umfang seines Geltungsbereichs. Eine N ivel
l ierung der Löhne über al le Arbeitnehmergruppen und Sektoren vermag
er al lerdings nur im Kontext eines zentralisierten Tarifsystems zu bewir
ken . Eine ähnliche Erklärung für den positiven Zusammenhang zwischen
tarifl icher Zentralisation und Lohnnivellierung bieten Moane/Wallerstein
(1997). Danach nimmt mit wachsender Zentralisierung die Relevanz po
litischer Entscheidungsprozesse (die auf dem Mehrheitsprinzip beruhen)
für die Tarifpolitik im Verhältnis zur Relevanz des Marktes zu. Dies be
deutet auch , dass durch die Zentralisierung der Tarifpolitik die Lohnstruktur
transparenter und legitimationsbedürftiger wird . 13 Die Niedriglohngruppen
verfügen deshalb in zentralisierten Systemen nicht nur über mehr Einfluss,
sondern auch über mehr I nformationen und Legitimationsgründe, um ih
rem I nteresse an einer Verringerung der Lohnspreizung Geltung zu ver
schaffen. Diese Überlegungen zur Legitimation der Lohnstruktur führen
zu einem zweiten Erklärungsstrang, dem zufolge die (legitimierenden) Ge
rechtigkeitsvorstellungen der Arbeitnehmer in Abhängigkeit vom tariflichen
Zentralisationsgrad stehen, und zwar in der Weise, dass die Gerechtig
keitsstandards umso egalitärer werden, je zentra lisierter die Tarifpolitik
ist. 14
Zum Zusammenhang zwischen dem tarifl ichen Zentralisationsgrad und
der Lohnstruktur liegt eine Reihe von Länder vergleichenden, empirischen
Untersuchungen vor: 15 Obwohl sie sich in Forschungsdesign, Ländersampie
und Untersuchungszeitraum unterscheiden, bestätigen sie al lesamt den
signifikant nivell ierenden Effekt der Zentralisierung der Tarifpolitik auf die
Lohnstruktur: Dies gi lt sowohl für d ie intersektoralen Lohndifferenziale als
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