Wirtschaft und Gesellschaft
Als Sozialwissenschaftler ist Neurath
einem breiteren Kreis durch sei
ne Bildstatistiken bekannt, die er für
das Wiener Wirtschafts- und Gesell
schaftsmuseum, eine weitere Grün
dung Neuraths aus dem Jahr 1 925,
entwickelte. Seine sozialwissenschaft
liehe Ausbildung erhielt er ursprünglich
in der Tradition der deutschen Histo
rischen Schule. Nachdem er 1 907 an
der Berliner Universität mit einem wirt
schaftshistorischen Thema promoviert
hatte, setzte er sich in Wien u. a. im
berühmten Seminar Böhm-Bawerks
gründlich auch mit den Lehren der
Österreichischen Schule der Natio
nalökonomie auseinander. ln seinen
zahlreichen sozialwissenschaftliehen
Schriften bezog Neurath in verschie
denen Formen immer wieder gegen
einen jeweiligen mainstream Position,
sowohl in Fragen der ökonomischen
Theorie wie auch in der Wirtschafts
politik.
Im vorliegenden Band von Neuraths
Economic Writings wird eine sach
liche Einteilung der Beiträge nahezu
deckungsgleich mit einer chronolo
gischen kombiniert. Neurath begann
mit wirtschaftshistorischen Arbeiten,
von denen im Band z. B. Teile seiner
"Antiken Wirtschaftsgeschichte"4 und
die umfangreiche Abhandlung über
die Kriegswirtschaft aus 1 9 1 0 erstmals
übersetzt sind.
Der zweite Abschnitt "Early contri
butions to the theory of economics
and social science" enthält Beiträge
Neuraths zu den damaligen Kontro
versen über Methode und Wertbezo
genheit der Sozialwissenschaften. Im
"Methodenstreit" zwischen der His
torischen Schule und der Österrei
chischen Schule nahm Neurath wie z.
B. auch Schumpeter eine vermitteln
de Position ein. ln Antizipation seiner
später formulierten wissenschaftsthe-
246
32. Jahrgang (2006), Heft 2
oretischen Position nahm er für die
historische Forschung (Induktion i. S.
Mengers) die Möglichkeit in Anspruch,
zu generellen Propositionen zu gelan
gen, während andererseits die theore
tische Analyse (Deduktion) die histo
rische Forschung oft erst in die Lage
versetzt, bestimmte Zusammenhänge
zu erkennen.
ln der Werturteilsfrage wird der kri
tische Impetus Neuraths deutlich in
seiner Kritik an der einseitigen Orien
tierung der Österreichischen Schule
auf die Preistheorie. Er negierte die
Objektivität wohlfahrtstheoretischer
Schlussfolgerungen auf deren Grund
lage, indem er aufzeigte, dass die re
sultierende Allokation der Ressourcen
und Verteilung der Güter und ihre Be
wertung von institutionellen Strukturen
und Wirtschaftsordnungen, von denen
jeweils mehrere Alternativen zumin
dest denkbar sind, abhängt. Als sol
che alternative Ordnungsformen hatte
Neurath schon früh die ägyptische Na
turalwirtschaft mit ihrem auf kleine Be
reiche eingeschränkten Tauschverkehr
identifiziert.
Von daher kommt auch Neuraths all
gemein-theoretisches Interesse an der
Kriegswirtschaft mehrere Jahre vor
dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
Für ihn wurde am Beispiel der Kriegs
wirtschaft erkennbar, dass durch Geld
vermittelter Tausch nur eine von meh
reren Möglichkeiten der Gütervertei
lung darstellt: "Money reveals itself
more clearly as only one of the many
means to provide goods." (Zitat aus
einem 1 91 0 publizierten Aufsatz, im
vorliegenden Band S. 1 93) Dieser Ge
danke führte Naurath in der nach dem
Krieg einsetzenden "Sozialisierungs
debatte" zu seinem Vorschlag einer
Wirtschaftsordnung auf Basis einer
"Naturalrechnung".
Nach dem Ende des Weltkriegs, das