Wirtschaft und Gesellschaft 35. Jahrgang (2009), Heft 4
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Westen beachtet.
Aus den acht Kapiteln des zweiten
Teils und den sieben Kapiteln des drit-
ten Teils, die allesamt sehr umfassend
sind und jeweils unabhängig von al-
len anderen gelesen werden können,
ergibt sich ein mosaikartiges, facet-
ten- und nuancenreiches Epochenbild
des 19. Jahrhunderts. Jedes Kapitel
enthält Begriffsbestimmungen, theo-
retische Überlegungen und Typologi-
en, welche die Einordnung der empi-
rischen Befunde aus verschiedenen
Weltregionen ermöglichen. Die Struk-
turierung des Materials erfolgt ferner
einerseits mittels zahlloser Vergleiche
von Fällen in unterschiedlichen Län-
dern, Weltregionen oder Kontinenten,
andererseits durch die Untersuchung
der stets dichter werdenden wechsel-
seitigen Beziehungen zwischen Staa-
ten, Wirtschaftsräumen und Kultu-
ren. Osterhammel hütet sich vor allzu
kühnen Generalisierungen, arbeitet
Ähnlichkeiten ebenso wie Unterschie-
de empirisch penibel wie theoretisch
fundiert heraus, beschränkt sich nicht
auf die Saldobetrachtung einer kultu-
rellen oder wirtschaftlichen Relation,
sondern sondiert jeweils die Ströme
beider Richtungen.
Wenngleich der Autor immer wieder
nachweist, in welchem Ausmaß das
19. Jahrhundert ein europäisches war
und wie stark Demonstrationseffekte
wirkten (Nachahmung anleitend oder
Ablehnung provozierend), so belegen
seine Untersuchungen doch nach-
drücklich, dass der Westen (Europa
und Nordamerika) und die Übrigen nicht
als Dichotomie zu beurteilen sind. Chi-
na etwa war Europa in vielem voraus,
fiel dann aber ab dem 18. Jahrhundert
zurück. Überhaupt waren globale wirt-
schaftliche Entwicklungsunterschiede
um 1700 viel weniger ausgeprägt als
zweihundert Jahre später. Das rand-
offene, lange 19. Jahrhundert, eine
Epoche zunehmender Verflechtung,
war also auch eine Epoche, in der sich
Entwicklungsunterschiede auftaten,
Klüfte vertieften – nur auf den ersten
Blick ein Paradoxon.
Abschließend führt Osterhammel ei-
nige weniger geläufige Aspekte an, mit
denen sich das 19. Jahrhundert – ne-
ben den bekannteren Haupttendenzen
wie Industrialisierung, Urbanisierung,
Nationalstaatsbildung, Kolonialismus,
Imperialismus, Globalisierung – cha-
rakterisieren lässt:
1.) Hohe Effizienzsteigerungen zeig-
ten sich v. a. auf den Gebieten der
menschlichen Arbeit, der Kriegsfüh-
rung und des Staatsapparates. Die
historisch bis dahin beispiellose Pro-
duktivitätssteigerung menschlicher Ar-
beit ging zum einen auf die Einführung
und Verbreitung der industriellen Pro-
duktionsweise (gekennzeichnet durch
verfeinerte Arbeitsteilung und Spezi-
alisierung, fabriksmäßige Organisati-
on, Einsatz kohlegetriebener, später
elektrischer Maschinen, ab Ende des
19. Jahrhunderts durch systematische
Forschung und Entwicklung), zum
anderen auf die Erschließung neuer
Landreserven zurück. Die agrarischen
Produkte dieser neu erschlossenen
Gebiete flossen in den interkontinenta-
len Handel ein. Die industriebasierten
Transportinnovationen Dampfschiff
und Eisenbahn ließen die Transport-
kosten stark sinken und verliehen dem
Handel weitere expansive Impulse. All
diese Effizienzsteigerungen erfolgten
räumlich uneinheitlich.
2.) Das 19. Jahrhundert war eine
Epoche gesteigerter Mobilität. Die
Massenmigration war zwischen 1870
und 1930 von einer vorher und nach-
her unerreichten Intensität. Die Zirku-
lation von Waren nahm sprunghaft zu.
Ab etwa 1860 kann man von einem