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Michaela Moser
Wer geht putzen und wer wird Millionär?
Soziale Polarisierung und die Produktion von Armut
„Wer geht putzen und wer wird Millionär, 50-Euro-Frage, denn die Antwort ist nicht
schwer“ heißt es in einem Song der deutschen Popband Britta1, der die zunehmend
prekären Lebensbedingungen einer wachsenden Zahl an Menschen genauso auf den
Punkt bringt wie das Wissen um die immer weiter aufgehende Schere zwischen Arm
und Reich. Schon seit etlichen Jahren belegen unterschiedliche Umfragen Bewusstsein
und Sorge der EuropäerInnen hinsichtlich der stärker werdenden sozialen Ungleich-
heit.2 Armutsrealitäten und -betroffenheiten und damit auch das Verständnis von Armut
sind in Bewegung gekommen, auch – aber nicht nur – seit die sogenannte Finanz- und
Wirtschaftskrise und die darauf folgenden Reaktionen jene Entwicklungen vorantrei-
ben, die diese längst auch als soziale und politische Krise entlarvt und verschärft haben.
Rund 80 Millionen Menschen leben laut offizieller statistischer Daten in der Europä-
ischen Union unter der Armutsgrenze, die mit 60 % des mittleren Einkommens eines
Landes definiert wird.3 Ihre Zahl entspricht in etwa der EinwohnerInnenzahl Deutsch-
lands, dem bevölkerungsreichsten Land der EU. Dass auch das Wirtschaftswachstum
der Vorkrisenjahre nicht oder kaum zur Erhöhung ihrer Lebensqualität geführt hat,
steht für diese Menschen so wenig außer Zweifel wie die Tatsache, dass sie zu jenen
gehören, die nachhaltig von Rezession und Krise betroffen sind. In Österreich müssen
rund eine Million Menschen und damit 12 % der Bevölkerung mit einem Einkommen
unter der Armutsgrenze auskommen, mehr als die Hälfte davon sind von akuter Armut
betroffen. Sie werden von der Statistik als manifest arm bezeichnet, was bedeutet, dass
sie neben bzw. aufgrund ihres niedrigen Einkommens an deutlichen Einschränkungen
in der Wohn-, Ernährungs- und Gesundheitssituation leiden und von vielen Bereichen
gesellschaftlichen Lebens weitgehend ausgeschlossen bleiben.4 Auch wenn diese Zahlen
im europäischen und weltweiten Vergleich als relativ gering erscheinen mögen, kann, so
der Befund des französischen Soziologen und Armutsforschers Serge Paugam, das jahr-
zehntelang in den Industrienationen geltende Phänomen der „marginalen Armut“ einer
Minderheit nicht länger als zutreffende Beschreibung der Verhältnisse verstanden wer-
1 Aus dem Song „Wer wird Millionär“ der deutschen Popband Britta. Vgl. Britta: „Das Schöne Leben“ (2006), nachzuhören u.a. auf:
http://www.myspace.com/brittaband (01.07.2012)
2 In einer Vergleichsstudie von neun europäischen Ländern gaben mehr als die Hälfte der Befragten an, dass sie bis zum Jahr 2030 ein
weiteres Ansteigen der Ungleichheit erwarten. Reinhardt, U./Roos, Georges T. (Hrsg.): Wie die Europäer ihre Zukunft sehen. Antworten
aus 9 Ländern. Darmstadt 2009. Eurobarometer-Umfragen zeigen ähnliche Ergebnisse.
3 In Österreich liegt diese nach den aktuellsten verfügbaren Zahlen derzeit bei einem Monatseinkommen von ca. EUR 1.031 für einen
Einpersonenhaushalt (Stand 2011, EU-SILC 2010).
4 Statistik Austria (2011): Armutsgefährdung und Lebensbedingungen in Österreich. Ergebnisse aus EU-Silc 2010.