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Arbeitsmarkt, Macht und Verteilung
Auf dem Arbeitsmarkt geht es immer um Machtfragen. Der Arbeitsmarkt ist kein klas-
sischer „Kartoffelmarkt“, wo der Preis Angebot und Nachfrage reguliert. Die neoklassi-
sche Arbeitsmarkttheorie unterstellt, dass die Nachfrage nach Arbeitskräften von der
Höhe des Reallohnes abhängt. Wenn der Reallohn sinkt, steigt die Nachfrage und
umgekehrt. Arbeitslosigkeit ist in der neoklassischen Welt somit immer Ausdruck eines
überhöhten Reallohnsatzes. Das neoklassische Arbeitsmarktmodell ist aber eine reine
Fiktion. Die Grundannahmen der neoklassischen Arbeitsmarkttheorie sind vollkom-
men realitätsfremd.
Zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern herrschen keine gleichen Wettbewerbs-
bedingungen. Sie verhandeln nicht auf Augenhöhe. Arbeitnehmer müssen ihre Arbeits-
kraft verkaufen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Sinken die Löhne, so
können sich die Beschäftigten nicht vom Arbeitsmarkt zurückziehen, wie es die Neo-
klassik unterstellt. Es herrscht der stumme Zwang der Existenzsicherung.
Bei sinkenden Löhnen müssen die Beschäftigten sogar zusätzliche Tätigkeiten aus-
üben, um ihr Einkommen zu sichern. Dieses Überangebot an Arbeitskraft lässt die
Löhne weiter fallen. Entgegen der neoklassischen Annahme steigt auf dem realen
Arbeitsmarkt das Arbeitsangebot bei sinkenden Preisen. Zudem sind Arbeitnehmer
nicht so grenzenlos mobil wie das Kapital. Familie, soziale Netze oder Wohneigentum
binden Beschäftigte an lokale Arbeitsmärkte. Das macht sie erpressbar. Ohne gewerk-
schaftlichen und gesetzlichen Schutz sind sie den Arbeitgebern ausgeliefert.
Die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik des letzten Jahrzehnts hat die gewerkschaftliche
Verhandlungsposition empfindlich geschwächt. Die massive Tarifflucht der Arbeitgeber
tat ein Übriges. Aufgrund zahlreicher Haustarifverträge, Öffnungsklauseln und Härte-
fallregelungen ist die Tarifpolitik heute stärker dezentralisiert und verbetrieblicht. Das
was Ver.di, IG Metall & Co aushandeln, kommt bei immer weniger Beschäftigten an.
Lediglich 63 % der Arbeitnehmer schützt heute noch ein Tarifvertrag. Die deutschen
Gewerkschaften können die gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung nicht mehr steu-
ern. Folglich wurden die Löhne ausgebremst. Die realen Tariflöhne sind in den letzten
10 Jahren zwar um rund 7 % gestiegen. Im gleichen Zeitraum sanken aber die Brutto-
löhne um 4 %. Damit hatte Deutschland europaweit die rote Laterne bei der Lohnent-
wicklung
Die Verschiebung der Kräfteverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt ließ die Gewinnein-
kommen explodieren. Die Gewinn- und Vermögenseinkommen kletterten seit 2000
um fast 50 %. Damit stiegen die Gewinneinkommen 2,6 mal so stark wie die Arbeit-
nehmerentgelte. Deswegen schrumpfte das Kuchenstück der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer. Die Lohnquote – Anteil der Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkommen
– liegt mit 67,2 % auf einem Tiefststand. Im Jahr 2000 lag die Lohnquote noch bei
72,1 %.