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Es werden Millionär_innen und Milliardär_innen gezählt. Die Veränderungen,
d. h. ob es etwa 1.000 Reiche weniger in China und 100 Milliardär_innen
mehr in den USA gibt, besagen jedoch allein noch nichts über die Vermögens-
verteilung in einer Gesellschaft. Forscher_innen und Medien, welche den Fo-
kus allein auf die Gruppe der Vermögenden richten, nehmen gleichsam eine
Binnenperspektive auf Reiche ein. Aus Gerechtigkeitsperspektive interessiert
aber, wie viele Arme es zur selben Zeit gibt. Denn Reichtum findet sich stets
neben Armut.
Armut meint Einkommensarmut und Reichtum bezeichnet primär Vermö-
gensreichtum. Das Konzept der relativen Armut wird von konservativer Seite
gerne anschaulich am Erwerbseinkommen relativiert: „Eine vierköpfige Familie
rutscht ins Armutsrisiko, wenn sie weniger als 1.735 Euro monatlich verdient.
Es ist eine Summe, mit der man in weiten Teilen Afrikas das Zeug zum Stam-
mesfürsten hätte“, hieß es vor Kurzem in der deutschen Zeitschrift „Der Spie-
gel“. Demnach wäre Armut in Europa weniger schlimm als in Afrika.
Beim Vermögen zielt die Relativierung aber in die andere Richtung: Mit dem
bisschen an Vermögen sei man doch noch nicht reich. Der Wald mache nur
Kosten, in der Immobilie müsse man ja wohnen und überhaupt, wer wisse
schon, was das Privateigentum morgen noch wert sei. Einkommensverteilungs-
fragen prägen Debatten zur Bedarfs- und Leistungsgerechtigkeit. Vermögens-
verteilungsfragen verdrängen Einkommensverteilungsfragen, wenn es um
Macht, Status und Sicherheit geht.
Armut endet im Tod, dynastischer Reichtum hört dort nicht auf. Vermögen
wird vererbt und sichert die soziale Reproduktion. Ein materielles immer Mehr
über Generationen ist möglich.
Erste Voraussetzung für Legitimationsnotwendigkeiten beim Reichtum ist
demnach, dass Reiche eine Zuschreibung des Reichseins überhaupt akzeptie-
ren. Zuerst muss Privateigentum Personen zugerechnet werden, bevor die Frage
nach der Legitimität gestellt wird. Gelingt dies nicht und wird der eigene Reich-
tum beharrlich geleugnet, d. h. wird behauptet, man sei ja gar nicht reich,
sondern bestenfalls ein wenig wohlhabend, dann muss auch nicht legitimiert
werden. Im diesem – für Reiche günstigen – Fall liegt die Begründungslast
dann bei den Vermögensforscher_innen und den Befürworter_innen einer Ver-
mögenssteuer. Diese müssen ihre hehre Motivation belegen und einen Neid-
freiheitstest bestehen.