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Wie dieses Kapitel jedoch zeigt, bestehen schon nach geltendem Recht einige arbeitsrecht-
liche Handlungsspielräume, um den Kollektiven der betroffenen Beschäftigten und ihren
kollektiv-arbeitsrechtlichen Repräsentanten (Betriebsrat, Gewerkschaft, Arbeiterkammer) Inst-
rumente zur Mitgestaltung der Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen in die Hand zu geben.
Das zentrale Gesetz der österreichischen Mitbestimmung, das Arbeitsverfassungsgesetz 1974
(ArbVG), wurde zwar in einer Phase des Übergangs von der Industrie- zur Dienstleistungswirt-
schaft geschaffen, die weitsichtig gewählten Formulierungen der rund 30 Mitwirkungs-Para-
grafen des ArbVG ermöglichen aber dennoch gewisse Anwendungen auf die unterschiedlichen
Organisationsformen der digitalen Arbeitswelt.
Auf der Grundlage des bestehenden Rechts („de lege lata“) werden diese Mitbestimmungsansprü-
che jedoch nicht ausreichen. Es bedarf einer Anpassung des kollektiven Arbeitsrechts an die ge-
genwärtigen und künftigen Erscheinungsformen sowie Mechanismen der Gig-Economy. Diese
wird ja über technisch rasch veränderbare Internet-Plattformen organisiert und abge wickelt. De
lege ferenda, aus der rechtspolitischen Zukunftsperspektive also, sind zentrale Fragen:
› In welchen Räumen der Arbeitsorganisation sollen RepräsentantInnen für welche Grup-
pen von Beschäftigten zuständig sein?
› Welche kollektiven Rechtsansprüche, also Mitwirkungsrechte, sind für die Interessenver-
tretung der im World Wide (!) Web beschäftigten „Belegschaften“ erforderlich?
› Wie kann die Entwicklung vom Betriebsrat zum Plattformrat gelingen?
1. Von der Fabrikordnung 1848 zur Gigwork-
Vereinzelung
Die geltende Betriebsverfassung, der größte Teil des ArbVG also,1 regelt die „Befugnisse
der Arbeitnehmerschaft“ sowie das Wahl- und Organisationsrecht ihrer Vertretungsorgane
(Betriebsrat, Zentralbetriebsrat, Konzernvertretung, Europäische Belegschaftsvertretung und
einige wei tere). Gleich nach dem Ende des 2. Weltkriegs wurde dieser Rechtsbereich nach dem
Vorbild der 1896 und 1919 geschaffenen Mitwirkungsgesetze (vor allem Bergbau-Betriebsvertre-
tung 1896, Betriebsrätegesetz 1919, Einigungsämter- und KollV-Gesetz 1920) wieder eingesetzt
in Gestalt des Kollektivvertragsgesetzes 1947 und des Betriebsrätegesetzes 1947. Diese beiden
kollektiv- arbeitsrechtlichen Gesetze wurden schließlich zusammengeführt, erweitert und kodifi-
ziert im ArbVG 1974.2 Was aber waren die Vorläufer dieser „republikanischen“ Gesetze gewesen?
Während der Revolution von 1848 hatte sich das „Gesamtdeutsche Parlament“ in der Frankfur-
ter Paulskirche mit einem Gesetzentwurf für eine Fabrikordnung befasst; das war vermutlich
die weltweit erste staatliche Mitbestimmungs-Initiative. Die unterste Stufe sollte ein Fabrikaus-
schuss bilden, der paritätisch aus FabrikarbeiterInnen und WerkmeisterInnen (ein/eine Vertre-
terIn aus jeder Abteilung, beide gewählt von den ArbeitnehmerInnen) sowie dem/der InhaberIn
der Fabrik zusammengesetzt sein. Zu den Aufgaben des Fabrikausschusses hätte es gehört, bei
1 § 33 bis § 134b, inklusive der Europäischen Betriebsverfassung bis § 263 ArbVG 1974.
2 Zur Geschichte des ArbVG vgl Cerny in Gahleitner/Mosler, ArbVR5 (2015) 31 ff.
Betriebsrat und Mitbestimmung in der Plattform-Ökonomie