Die Arbeitslosigkeit liegt wie ein dunkler Schatten über Österreichs gesamtem Wirt¬
schaftsleben. Sie läßt auch jene nicht mehr gleichgültig durch den Tag gehen, deren
Arbeitsplatz heute noch gesichert erscheint. Und sie wird auch — wenn man sie nicht
wirkungsvoll bekämpft — sehr bald jene aus ihrer Lethargie erwecken, die die Arbeitslosig¬
keit in Österreich aus durchsichtigen Motiven immer noch zu bagatellisieren versuchen
Es gibt Politiker, Wirtschafts- und Finanz¬
fachleute, die mit den Arbeitslosenzahlen
jonglieren wie mit Geldbeträgen und die durch
kühne Berechnungen und an den Haaren
herbeigezogene Vergleiche mit anderen Län¬
dern beweisen wollen, daß Österreichs Ar-
bsitslosenziffer „normal" sei und ihren wirt¬
schaftlichen Berechnungen entspräche.
Man soll nicht so ein „Geseres" machen
mit den Arbeitslosen, hat kürzlich einer die¬
ser „Experten" gesagt, aber 300.000 Arbeits¬
lose sind zuviel für zwei Millionen Arbei¬
tende, außerdem kann man doch eine Ar-
In der Thaliastraße im IG. Bezirk in Wien
wälzt sich jeden Wochentag ein endloser
Menschenstrom zu dem Gebäude des Arbeits¬
amtes, in dem wöchentlich allein 65.000 Ar¬
beitslose ihre Unterstützung holen. Vielleicht
könnten jene, die die Rettung der österrei¬
chischen Wirtschaft in der Kürzung der staat-
liqhen Investitionen und Einschränkung der
öffentlichen Bautätigkeit sehen, diesem Ge¬
bäude einmal einen Besuch abstatten. Viel¬
leicht käme ihnen dann zum Bewußtsein, wie
ernst es dem österreichischen Gewerkschafts¬
bund und den Arbeiterkammern um die Ver-
beitslosenzahl in keine Relation zu anderen
leblosen Zahlen bringen, die Produktions¬
ergebnisse oder Geschäftsgewinne zum Aus¬
druck bringen. 300.000 Arbeitslose, das heißt
SOO.OOOmal ein persönliches Schicksal eines
Arbeiters oder Angestellten, das heißt
SOO.OOOmal Not, verlorenes Selbstbewußtsein
und unerfüllte Kinderwünsche.
Man muß erst einmal selber arbeitslos ge¬
wesen sein, fünf Jahre hindurch, von 1931 bis
1936, wie der 52jährige Privatangestellte Otto
W. es war, um ermessen zu können, daß eine
Massenarbeitslosigkeit nicht nur den Staat,
sondern auch den Menschen zugrunde richtet.
1931 gab es mehr als 20 Millionen Arbeits¬
lose in Europa, und Österreich stand im Ver¬
hältnis zu seiner Größe mit ungefähr
600.000 Arbeitslosen in der Spitzengruppe der
von der damaligen Weltwirtschaftskrise be¬
troffenen Länder. Das Resultat ist bekannt.
Und heute? Wir besuchen einige Wiener
Arbeitslosenämter: „Ich war 1935 schon aus¬
gesteuert", erzählt uns der 49jährige Schlos¬
ser Heinrich D., „und ausgesteuert sein,
das heißt, zu existieren aufgehört haben.
Man ist nicht einmal eine ,Grundnummer'
mehr und die letzten Auswege siryi betteln,
stehlen oder der Strick. Ich will gar nicht
davon reden, was wir mitgemacht haben. Die
Frau in einer schlechtbezahlten .Bedienung',
ich jeden Tag am Bruckhaufen in Floridsdorf
Koks stieren. Diese halbverbrannten Koks¬
raste haben wir an die .besseren Leut', das
waren die Arbeitslosen, die noch nicht aus¬
gesteuert waren, um ein paar Schilling ver¬
kauft. So haben wir.gelebt, Jahre hindurch,"
Kollege Heinrich D. zeigt uns seine Ar¬
beitslosenkarte. „Ich bin heute wieder ar¬
beitslos, 5 Monate sind es bereits, und ich
weiß auch, warum. Wenn in Österreich nicht
gebaut wird, müssen auch alle anderen Be¬
rufe feiern. Aber eines schreibn S‘ in unsere
Zeitung, die verantwortlichen Staatsmänner
sollen ja nicht glauben, wir können das wie¬
der jahrelang aushalten. Wir alle wissen, daß
wir das nicht mdhr können und Österreich
auch nicht. . . !"
wirklichung ihres 5 Punkte umfassenden
Sofortprogrammes gegen die Arbeitslosigkeit
ist.
Die Maßnahmen zur Linderung der Arbeits¬
losigkeit, die in diesem Programm gefordert
v/erden, sehen unter anderem eine Begebung
von Schatzscheinen in der Höhe von 250 Mil¬
lionen Schilling für ö.TenliirJxa—Lmm^iiLkmen
und eine
überhöhten Kreditkosten vor. Glaubt nun
jemand ernstlich, daß dies Österreich in eine
Inflation treiben kann, wie die führenden
Finanzkreise das prophezeien?
*
Fast jeden Tag ist in den Zeitungen von
Selbstmorden zu lesen. Wohl sind nicht in
allen Fällen Arbeitslosigkeit und Not die
Ursachen, aber wenn von 10 Fällen auch nur
einmal Arbeitslosigkeit das Motiv ist, so ist
das alarmierend genug.
Da ist die 40jährige Hilfsarbeiterin Adele
M. Sie hat zwei schulpflichtige Kinder zu ver¬
sorgen, und das ist ihr mit manchem Opfer
bisher auch gelungen, solange sie Arbeit
hatte. Jetzt aber: „Seit drei Monaten bin ich
arbeitslos und mit der Unterstützung von
145 Schilling wöchentlich kann ich auf die
Dauer nicht auskommen. Weil der Export
angeblich zurückgegangen ist, bin ich ent¬
lassen worden. Meine ehemaligen Arbeits¬
kolleginnen aber erzählen mir, daß die Firma
genau soviel ins Ausland liefert wie früher.
Zwei neue Maschinen habn s' eingestellt, und
anstatt mehr und billigere Waren herzustel¬
len, sind zehn Frauen entlassen worden."
Plötzlich schaut uns die Kollegin Adele M.
groß und fragend an: „Glauben S', daß ich
wieder eine Arbeit krieg'?" fragt sie for¬
schend, „denn wenn ich das letzte Stück ins
Versatzamt getragen hab', bleibt mir mit den
Kindern nur mehr der Gashahn ..
Hier hat eine einfache Hilfsarbeiterin auf¬
gezeigt, wie sich manche LTnternehmer die
Produktivitätssteigerung ohne den Österrei¬
chischen Gewerkschaftsbund vorstellen. Für
sie der Profit, für die Arbeiter und Angestell¬
ten die Arbeitslosenunterstützung oder der
Gashahn.
*
Die Arbeitslosen wollen weder bedauert
sein, noch wollen sie, daß ihr trauriges Los
als Politikum für eine gewisse Presse ausge¬
beutet wird. Das einzige, das sie wollen, ist
Arbeit!
Am 25. Dezember 1952 hat sich der 53jäh-
rige Landarbeiter Alois Sch. am Kirchenplatz
von Bischofstetten auf einem Lichtmast er¬
hängt. Der ewige Weihnachtswunsch ,, . . . und
Friede den Menschen auf Erden . .ist bei
ihm nicht in Erfüllung gegangen. Ein tra¬
gischer Fall, ohne Zweifel! — Alois Sch. war
Vater von neun Kindern und hat im Leben
bestimmt schwer zu kämpfen gehabt.
In den nächsten Tagen griff die gesamte
kommunistische Presse dieses traurige Ereig¬
nis auf. „Arbeitslosigkeit mordet Vater von
neun Kindern". „Ein Vater, der seinen neun
Kindern keine Weihnachtsfreude bereiten
kann, begeht Selbstmord." Dies war der Grund¬
ton, auf den die KP-Presse ihre spaltenlangen
^MUkel abstimmte.
Die „Solidarität" hat sich dieses Falles auch
angenommen; hier die Auskunft der Gen¬
darmerie von Bischofstetten und der Gattin
des Selbstmörders: Alois Sch. — ursprüng¬
lich ein Wanderhändler — war nicht arbeits¬
los, sondern hat bereits dreimal seinen Ar¬
beitsplatz aus eigenem Antrieb verlassen.
Von seinen neun Kindern sind sieben bereits
erwachsen und stehen alle in Arbeit. Seine
Frau, die ebenfalls eine Beschäftigung hat,
wohnt mit zwei schulpflichtigen Kindern in
bescheidenen, aber geordneten Verhältnissen
in einem Bauernhaus in Bischofstetten.
Alois Sch. war Psychopath, Spieler und
Trinker. In berauschtem Zustand und nach
einer schweren Auseinandersetzung mit sei¬
ner Familie hat er sich im Morgengrauen des
25. Dezember aufgehängt.
Wahrhaftig, ein tragischer Fall einer durch
die Schuld des Mannes zerrütteten Ehe. Aber
man hilft den Arbeitslosen nicht, wenn man
jeden Selbstmord zu einer Arbeitslosen¬
tragödie verfälscht.
*
Einige Schicksale, wahllos herausgegriffen
aus 300.000. Für die Verfechter einer Wirt-
schafls- und Finanzpolitik, deren letzte Weis¬
heit es ist, ihrer vorgetäuschten Inflations¬
angst immer wieder hunderttausende Arbeits¬
plätze zu opfern, sind diese Schicksale völlig
uninteressant.
Schicksale aber klagen an! Daß sie gehört
und zum Besseren gewendet werden, ist der
unermüdliche Kampf des österreichischen
Gewerkschaftsbundes.
Franz Nekula-Berton
Seite 4 Nr. 183 SOLIDARITÄT