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finden. Eine Bereicherung an der
Not, in diesem Faüe an der Woh¬
nungsnot, muß unter allen Um¬
ständen ebenso verhindert werden
wie überhaupt jegliche Spekula¬
tion mit einem so lebenswichtigen
Faktor, wie ihn die Wohnung
zweifellos darstellt.
Vor allem aber darf nicht ver¬
gessen werden, daß in Österreich
seit 1922 die Löhne und Gehälter
aut den durch den Mieterschurz
garantierten niedrigen Mietzinsen
aufgebaut sind. Statistischen Er¬
hebungen des Internationalen Ar¬
beitsamtes zufolge waren die Real¬
löhne gerade in Österreich ganz
besonders niedrig. Wien stand
beispielsweise 1924 und 1928 in
dieser Beziehung unter sechzehn
größeren Städten der Welt an
vorletzter beziehungsweise an
drittletzter Stelle.
Diese niedrigen Löhne waren
also nur auf Grund niedriger
Mietzinse möglich. Sie setzten
Österreichs Wirtschaft — trotz
mangelhafter technischer Aus¬
rüstung der Industrie — in die
Lage, exportieren zu
können und auf dem Weltmarkt
konkurrenzfähig zu bleiben.
Der Mieterschutz war also nicht
nur für die Arbeiterschaft von
größter Bedeutung, sondern dar¬
über hinaus für die gesamte Wirt¬
schaft und damit auch für das
ganze Volk!
Der auf dem Weg der niedrigen
Mieten subventionierte Export
war und ist für Österreich lebens¬
wichtig. Unser Land kann auf dem
Weltmarkt nur dann die notwendi¬
gen Rohstoffe und vor allem auch
Kohle kaufen, wenn es auch in
der Lage ist, seine Erzeugnisse
zu angemessenen Preisen zu ver¬
kaufen.
Höhere Mietzinse hätten höhere
Löhne und Gehälter zur Folge,
natürlich auch höhere Gehälter für
die öffentlich Angestellten und da¬
mit höhere Steuern. Auf jeden Fall
würden durch „kostendeckende"
Mietzinse unsere Erzeugnisse er¬
heblich verteuert und wären auf
dem Weltmarkt nicht mehr kon¬
kurrenzfähig.
Die Folge davon wäre eine
empfindliche Verringerung des
Exports der österreichischen Wirt¬
schaft. Der Lebensstandard würde
damit erheblich sinken und Hun¬
derttausende würden für dauernd
der Arbeitslosigkeit preis¬
gegeben werden.
Die Frage ist also: Export oder
Hausherrenrente? Sicherung der
Arbeitsplätze in unserer Export¬
industrie und in den übrigen Zwei¬
gen der österreichischen Wirtschaft
oder ein müheloses Einkommen für
die Hausbesitzer?
Wer den Mieterschutz gefähr¬
det, gefährdet die Existenz hun¬
derttausender Familien und da¬
mit die Existenz unseres Staates
überhaupt!
Weniger augenfällig, aber eben¬
falls bedeutend ist der soziale
Wert des Mieterschutzes. Ist der
Mieter vor Kündigung und Zins¬
erhöhung geschützt, so verleiht ihm
das ein Gefühl materieller Sicher¬
heit. Würde diese Sicherheit fehlen,
so wären schwere moralische
Schäden unausbleiblich.
Durch den sozialen Wohnhaus¬
bau ist die Wohnkultur bedeutend
gehoben worden. Daß sich dieser
bemerkenswerte Fortschritt nicht
auch auf die Allgemeinheit ent¬
scheidend auswirkt, ist eine Folge
des Krieges. Immerhin aber ist es
nicht hoch genug einzuschätzen,
daß doch tausende und aber¬
tausende Familien gesunde und
moderne Wohnungen haben. Ein
lediglich privater Wohnhausbau
unter dem Gesichtspunkt des Pro¬
fits durch Vermietung hätte hn
Hinblick auf die enorm gestiegenen
Baukosten überaus hohe Mietzinse
erforderlich gemacht, wodurch
ernste wirtschaftliche Gefahren ent¬
standen wären.
So ist der Mietersdiutz — heiß
umkämpft und zäh verteidigt —
zu einem festen Bestandteil unseres
öffentlichen und sozialen Lebens
und zu einer der Grundlagen
unserer Volkswirtschaft geworden.
Freilich mußten die Hausbesitzer
dafür ein Opfer bringen, doch
ist es eines der wesentlichsten
Kennzeichen unserer Epoche, daß
die Interessen der Allgemeinheit
manchmal doch höher gestellt
werden als die Interessen einer
kleinen Minderheit.
Die Arbeiter und Angestellten
Österreichs werden weiterhin allen
Versuchen, den Mieterschutz zu
beseitigen, energisch und ent¬
schlossen entgegentreten, denn der
Mieterschutz ist seit nunmehr drei
Jahrzehnten zum Inbegriff ihres
sozialen Aufstiegs geworden.
Der umstrittene „Hillegeisl-Plan"
Immer wieder wird der „Hillegeist-Plan" zitiert. Die Gewerkschaft der
Angestellten in der Privatwirtschaft legt Wert darauf, daB audi die gewerk¬
schaftlich organisierten Arbeiter die tatsächlichen Absichten dieses Planes
kennenlernen. Wir veröffenlichen daher nachstehende Darstellung, die uns
von der Gewerkschaft der Privatangestellten zukommt, ohne unsererseits zu
der Frage selbst Stellung zu nehmen.
Der von der Gewerkschaft der An¬
gestellten in der Privatwirtschaft in
allen ihren Körperschaften mit über¬
wältigender Mehrheit beschlossene
Rentenreformplan —• in der Öffentlich¬
keit als „Hillegeist-Plan" bekannt ge¬
worden —, der in einer Urabstimmung
der Gewerkschaftsmitglieder mit einer
Mehrheit von 83 Prozent der Abstim¬
menden gebilligt wurde, beruht auf
folgenden Überlegungen und Grund¬
sätzen:
1. Die derzeitigen Renten in der So¬
zialversicherung sind ihrer absoluten
Höhe nach, ebenso wie im Verhältnis
zum letzten Arbeitseinkommen, noch
immer erschreckend niedrig. Aus die¬
sem Grunde können die versicherten
Arbeitnehmer, auch wenn sie das für
den Rentenanfall vorgesehene Lebens¬
alter von 65 Jahren bei Männern und
von 60 Jahren bei Frauen bereits voll¬
endet haben, dennoch nicht in den
wohlverdienten Ruhestand gehen.
Sie bleiben — weil sie von ihrer
Rente nicht leben können — wei¬
ter in Arbeit und nehmen dadurch
zehntausenden jungen Menschen
Fortkommens- und Aufstiegsmög¬
lichkeiten.
2. Während einerseits die Renten so
niedrig sind, daß man davon allein nur
sehr schwer sein Auslangen finden
kann, erhalten jene Rentner, die wei¬
terhin in Arbeit bleiben oder eine
neue Arbeit annehmen, derzeit die um
die Ernährungszulage und Wohnungs¬
beihilfe gekürzte Rente zusätzlich zu
ihrem Arbeitseinkommen, auch wenn
dieses so hodi ist, daß hundert-
tausende andere arbeitende Menschen
ein solches Einkommen nie erreichen.
3. Die Kürzungsbestimmungen hin¬
sichtlich der Ernährungszulage und
der Wohnungsbeihilfe gelten aber
gleichmäßig für alle Rentner, gleich¬
gültig, wie hoch ihre Rente ist, gleich¬
gültig, wieviel ihr zusätzliches Ar¬
beitseinkommen beträgt.
Es ist also möglich, daß ein Rentner
mit 400 Schilling Rente, von der er
selbst das kümmerlichste Dasein nicht
fristen kann, bei einem zusätzlichen
Nebeneinkommen von 300 Schilling
eine Kürzung seiner Rente um
269 Schilling erfährt, so daß ihm als
Lohn für seine Arbeit brutto 31 Schil¬
ling verbleiben. Das ist kein theore¬
tischer Fall, sondern ein praktisches
Beispiel.
Auf der anderen Seite wird einem
Rentner mit einer Höchstrente von
900 Schilling, der nach Erreichung des
65. Lebensjahres im Betrieb verbleibt
und einen Gehalt von beispielsweise
2400 Schilling monatlich bezieht, zu
diesem Gehalt auch noch die gekürzte
Rente von 631 Schilling ausbezahlt.
Wenn dieser Rentner aber eines Tages
nicht mehr arbeiten kann und daher
gezwungen ist, tatsächlich in den
Ruhestand zu treten, sinkt sein Brutto¬
einkommen von derzeit 3031 Schilling
auf 900 Schilling herab. Solange er
arbeitet und normal verdient, wird er
die zusätzliche Rente von 631 Schilling
gar nicht brauchen. Wenn er aber
nicht mehr imstande ist, zu arbeiten
und kein anderes Einkommen bezieht
als seine Rente, erhält er eine Rente,
von der er nicht leben kann.
4. Daraus ergeben sich aber auch
Konsequenzen für die Allgemeinheit:
Der Rentner mit einer unzuläng¬
lichen Rente wird in den meisten
Fällen bereit sein, mit einem klei¬
neren Arbeitseinkommen sich zu¬
frieden zu geben, weil er ja vor der
ärgsten Not geschützt ist Das wird
von den Unternehmern weidlich aus¬
genützt. Der Rentner wird daher
heute zwangsläufig zum Lohn¬
drücker.
5. Diese Zustände wirken noch auf¬
reizender dadurch, daß es hundert¬
tausende Menschen in Österreich gibt,
für deren Alter bisher keinerlei ge¬
setzliche Vorsorge getroffen wurde
(zum Beispiel Angehörige der freien
Berufe, kleine Gewerbetreibende,
Bauern). Sie erhalten, wenn sie alt
und arbeitsunfähig geworden sind,
überhaupt keine gesetzliche Leistung,
auf die sie einen Rechtsanspruch
haben. Auf der anderen Seite aber
bekommen noch in Arbeit stehende
Menschen mit einem normalen Arbeits¬
einkommen eine zweite Leistung, die
ihrem Sinne nach eigentlich nur als
Ruhegenuß gedacht war und die zu
einem erheblichen Teil auf Kosten der
Allgemeinheit geht.
Dies kann niemand, der einiger-
maßen sozial denkt, als befriedigend
oder gar als sozial betrachten; es
sdireit nach einer gerechten Ände¬
rung, nach einer sozialeren Lösung.
Der „Hillegeist-Plan“ sieht diese
soziale und gerechte Lösung in fol¬
genden Maßnahmen:
1. Alle Renten sollen auf ein Aus¬
maß erhöht werden, von dem man
dem Rentner zumuten kann, auch sein
Auslangen zu finden. Das wird in den
meisten Fällen dazu führen, daß die
Arbeitnehmer nach Erreichung der
Altersgrenze auch tatsächlich in den
Ruhestand treten und den Jungen
Platz machen. Der Reformplan ver¬
langt, daß die Renten nach einer
40jährigen Beschäftigungsdauer schritt¬
weise auf 78 Prozent des Durch¬
schnittseinkommens der letzten drei
Jahre gesteigert werden.
2. Sobald dieser Zustand erreicht ist
— und nicht früher — soll man den
Rentner vor die Entscheidung stellen,
ob er in den Ruhestand gehen und
eine zum Leben ausreichende Rente
beziehen will, oder ob er es vorzieht,
weiterhin in Beschäftigung zu bleiben
und dann auf seine Rente verzichten
zu müssen. Dadurch würde sich jeder
Lohndruck aufhören und für die Jun¬
gen würde es mehr Beschäftigungs¬
möglichkeiten geben.
3. Solange die Rente ein zum Leben
ausreichendes Ausmaß nicht erreicht
hat, müssen die bisherigen unsozialen
Ruhensbestimmungen, die bei Zu¬
sammenfallen einer Rente und einer
Beschäftigung den Entzug der Er-
nährungszulage und der Wohnungs¬
beihilfe ohne Rücksicht auf die Höhe
des Gesamteinkommens zur Folge
haben, in sozialere Bestimmungen um¬
gewandelt werden.
Der Reformplan schlägt hiefür fol¬
gendes System vor: Sofern Rente plus
Arbeitseinkommen einen bestimm¬
ten Betrag nicht erreicht, soll über¬
haupt keine Kürzung durchgeführt
werden. Erst wenn das Gesamtein¬
kommen eines Rentners aus Rente
und zusätzlichem Arbeitseinkommen
den festzulegenden Freibetrag über¬
steigt, wird die Rente um das über
diesen Freibetrag Lmausgehende
Einkommen gekürzt.
Ein Rentner könnte unter der
Annahme eines Freibetrages von
1000 Schilling zu seiner Rente von
400 Schilling also noch 600 Schilling
dazuverdienen, ohne daß seine Rente
irgend eine Kürzung erfährt. Heute er¬
folgt eine Kürzung um 269 Schilling,
schon dann, wenn das zusätzliche
Einkommen nur den Betrag von
269 Schilling erreicht. Nach dem
neuen Vorschlag würde ein Rentner
mit 400 Schilling Rente erst bei einem
zusätzlichen Arbeitseinkommen von
869 Schilling eine Kürzung in der
Höhe von 269 Schilling erfahren. Na¬
türlich ist der genannte Betrag von
1000 Schilling nur als Beispiel zu be¬
trachten; die Festlegung des tatsäch¬
lichen Freibetrages obliegt den parla¬
mentarischen Verhandlungen.
Das sind die Grundsätze des „Hille-
geist-Planes". Die Gewerkschaft der
Angestellten in der Privatwirtschaft
ist der Meinung, daß die verbesserte
Rentenberechnung sowohl für die An¬
gestellten als auch für die Arbeiter
Geltung haben soll. Damit wäre die
rechtliche Gleichstellung der Arbeiter
und Angestellten zum Vorteil beider
erreicht beziehungsweise wiederher¬
gestellt.
Es ist selbstverständlich, daß die
Gewerkschaft auf dem Standpunkt
steht, daß die Pensionen für die tat¬
sächlich im Ruhestand stehenden
Pensionisten des öffentlichen Dien¬
stes unter keinen Umständen ge¬
kürzt werden dürfen. Der Reform-
plan sieht ja gerade eine Anglei¬
chung der Renten an diese Pen¬
sionen vor.
Die Gewerkschaft stellt mit Genug¬
tuung fest, daß im Hauptverband der
Sozialversicherungsträger Österreichs
über Auftrag von Minister M a i s e 1
die Vorarbeiten für eine Neukodi¬
fikation des österreichischen Sozial¬
versicherungsrechts bereits sehr weit
fortgeschritten sind, und daß die bis¬
herigen Beratungsergebnisse der Fach¬
leute weitgehend mit den Grund¬
sätzen übereinstimmen, die die Ge¬
werkschaft der Privatangestellten hin¬
sichtlich des Neuaufbaues der künf¬
tigen Renten gefordert hat. Eine sach¬
liche Behandlung dieser Fragen muß
natürlich auch berücksichtigen, daß
heute bereits -ruf 1,8 versicherte Ar¬
beitnehmer 1 Rentner beziehungsweise
Pensionist entfällt.
Die Einwendungen gegen den
„Hillegeist-Plan“ werden hoffentlich
bald einer vernünftigen und sach¬
lichen Behandlung dieser für Mil¬
lionen arbeitender Menschen lebens¬
wichtigen Frage Platz machen.
Eigentümer und Hetausgeber: Österreichischei
Gewerkschaltsbund. Verleger: Verlag des
österreichischen Gewerkschattsbundes Chet-
redakteur Fritz Klenner. Verantwortlicher
Redakteur: Karl Franta. Für die Bildbeilage
verantwortlich: Fritz Konir. Gestaltung dei
Bildbeilage: August Makart. Alle Wien, 1..
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