Kollektivverträge—Pionierarbeit'
Kollektivverträge gehören heute zum Um und Auf des Sozialrechtes
und zum Um und Auf der Gewerkschaftsbewegung. Jeder Arbeitnehmer, der
über seine Arbeitsbedingungen und über seine Lohnhöhe etwas wissen will,
muß in dem für ihn in Betracht kommenden Kollektivvertrag nachsehen. Die
Kollektivverträge sind für die Arbeitnehmer ein Lexikon der Rechte, die sie
gegenüber ihrem Unternehmer haben.
Das war nicht immer so. Die Ge¬
schichte der Arbeiterbewegung weiß
von harten und langen Kämpfen zu
berichten, bis es gelang, die Arbeiter
von dem härtesten Los, der Aus¬
beutung, zu befreien. Ursprünglich
wurden die Arbeitsbedingungen ledig¬
lich zwischen dem Unternehmer und
dem einzelnen Arbeiter vereinbart.
Für die Gestaltung dieser Arbeits¬
bedingungen galt, wie für jede Ware,
das Gesetz von Angebot und Nach¬
frage.
Da zu viele Arbeiter vorhanden
waren, war der Preis der Ware
„Arbeitskraft", also der Lohn, sehr
gering. Die Arbeiter mußten sich
mit Hungerlöhnen und den elend¬
sten Arbeitsbedingungen, oft bei
sechzehnstündiger Arbeitszeit im
Tage, begnügen und froh sein,
wenn sie zu solchen Bedingungen
überhaupt Arbeiten finden konnten.
Erst als die Arbeiter erkannten,
daß sie sich gegen ihre Ausbeuter zu¬
sammenschließen müßten, konnten
sie durch die nunmehr einsetzenden
gewerkschaftlichen Kämpfe ihre Lage
verbessern. Mit der Notwendigkeit,
Die so schwer errungenen
Sozialgesetze, die wir nun schon
als selbstverständlich betrachten,
müssen immer wieder verteidigt
und ausgehaut werden.
Bundesminister für soziale Ver¬
waltung Karl M a i s e 1, Vize¬
präsident des Österreichischen
Gewerkschaftsbundes
für Arbeitsbedingungen zu kämpfen,
entstand auch der Kollektivver-
t r a g. An Stelle-des einzelnen Ar¬
beiters schlossen die Gewerk¬
schaften für ganze Arbeiter¬
gruppen Arbeitsverträge ab. An
Stelle der schwachen einzelnen Ar¬
beitnehmer trat die gesamte
Kraft der Gewerkschaftsbewegung.
Dieses Prinzip, das schon vor Jahr¬
zehnten unser Sozialrecht zu be¬
herrschen begann, ist heute noch
immer gültig.
Je stärker die Gewerkschaft,
desto besser werden ihre Kollektiv¬
verträge sein.
Je mehr Mitglieder einer Ge¬
werkschaft angehören, desto besser
werden daher die Arbeitsbedin¬
gungen dieser Mitglieder werden.
Wechselvolle Entwicklung
Das Kollektivvertragswesen, das
anfänglich auf den Widerstand des
Staates gestoßen war und sich erst
allmählich durchzuselzen begann,
wurde erstmalig unter der Amtszeit un¬
seres unvergeßlichen Sozialministers
Ferdinand H a n u s c h gesetzlich ge¬
regelt. Der Kollektivvertrag bekam
durch dieses Gesetz in seinen Wir¬
kungen eine gesetzähnliche Be¬
deutung.
Nach einigen Verwässerungen wäh¬
rend der Ständestaatzeit wurde
es 1938 durch den deutsdren Faschis¬
mus vollkommen beseitigt. In jener
Epoche hatten weder Gewerkschaften
Platz, noch wäre es denkbar gewesen,
die Regelung der Arbeitsbedingungen
den Arbeitern selbst zu überlassen.
An Stelle des Kollektivvertrages trat
die von den Reichstreuhändern
autoritär erlassene Tarifordnung.
Nach 1945 war es daher selbst¬
verständlich und eine der ersten
größeren sozialpolitischen Auf¬
gaben, die Tarifordnung wieder
durch die demokratischen Kollek¬
tivverträge zu ersetzen.
Am 26. Februar 1947 wurde das
neue derzeit geltende Kollektivver¬
tragsgesetz vom Nationalrat verab¬
schiedet.
Die besondere Bedeutung der Kol¬
lektivverträge liegt einerseits in
ihrem Vertragscharakter, anderseits
in ihrer zwingenden Wirkung, die
sie für das einzelne Arbeitsverhält¬
nis ausüben. Wie bereits erwähnt,
kommt es bei dem Inhalt der Kol¬
lektivverträge auf die Stärke der
abschließenden Gewerkschaft an.
Die Gewerkschaften haben die
Aufgabe, vorerst die Unternehmer
zum Abschluß eines Kollektivver¬
trages zu bringen und dann in
diesem Vertrag für die Arbeiter
möglichst vorteilhafte Bestimmun¬
gen zu vereinbaren.
Wochen- und manchmal monate¬
lange Vorarbeiten und Verhand¬
lungen sind erforderlich, ehe es zum
Abschluß eines Vertrages kommt. Mit¬
unter ist es auch notwendig, den
Forderungen der Gewerkschaften
Nachdruck durch gewerkschaftlidie
Kampfmaßnahmen zu verleihen.
Manche Kollektivverträge sind erst
dadurch zustande gekommen, daß
die Gewerkschaften Streiks ge¬
führt haben. Uber die ungeheure Ar¬
beit und auch den damit ver¬
bundenen Erfolg der Gewerkschaften
Hiezu kommen noch 136 Über¬
brückungshilfen und 7 vom ÖGB abge¬
schlossene Kollektivverträge. Außerdem
wurden noch 19 Mindestlohntarife fest¬
gesetzt. 142 Verträge gelten für das ge¬
samte Bundesgebiet.
Für 90 von 100
Man kann annehmen, daß diese
Kollektivverträge für rund 90 Prozent
aller Arbeitnehmer gelten. Das öster¬
reichische Kollektivvertragswesen
sieht nämlich, im Gegensatz zur Re¬
gelung in anderen Ländern, vor,
daß Kollektivverträge nicht nur
für die Mitglieder der abschließen¬
den Gewerkschaften, sondern für
alle Arbeitnehmer, die unter den
Geltungsbereich des Kollektivver¬
trages fallen, wirksam sind.
Allerdings ergibt sich aus dieser
Regelung ein gewerkschaftlich sehr
bedeutendes Problem. Die Arbeiter,
die nicht zur Gewerkschaft gefunden
haben, genießen ebenso die Vorteile
der kollektivvertraglidien Bestim¬
mungen, wie die gewerkschaftlich
organisierten. Aus verschiedenen
sozialpolitischen Erwägungen wurde
jedoch diese Regelung gewählt.
Der Inhalt der Kollektivverträge
wirkt für das Arbeitsverhältnis ähn¬
lich wie ein Gesetz. Ihre Bestimmun¬
gen gehen in den Einzelarbeitsver¬
trag über und gelten so als ob sie
zwischen Unternehmer und Arbeiter
vereinbart worden wären.
Der besondere Schutz des Arbeit¬
nehmers liegt in der Unabding¬
barkeit der Kollektivverträge.
So können rechtswirksam zwischen
Die Gewerkschaften voH heute
haben noch große Aufgaben vor
sich. Sie werden sie nur erfüllen
können, wenn es gelingt, die Ge¬
samtheit der um Lohn und Ge¬
halt arbeitenden Menschen für
sich zu gewinnen.
Nationalrat Johann Böhm, Prä¬
sident des österreichischen Ge¬
werkschaftsbundes
Anläßlich des 3. Gesamtösterreichischen Gewerkschaftstreffens werden das
Neue Rathaus und viele andere Gebäude, Denkmäler und Kirchen festlich
beleuchtet. Im Bild: Die beleuchtete Säulenhalle des Parlaments
mögen nachstehende Tabellen Auf¬
schluß geben:
Seit 1945: 1840 Kollektivverltäge
Unsere sechzehn Gewerkschaften
haben seit 1945 insgesamt 1840 Kol¬
lektivverträge abgeschlossen, von
denen auf die einzelnen Gewerk¬
schaften entfallen:
Gewerkschaft der
Angestellten in der Privatwirtschaft 365
Angestellten der freien Berufe .... 43
Bau- und Holzarbeiter . 395
Arbeiter der chemischen Industrie 53
Eisenbahner . 8
Arbeiter der graphischen u. papier¬
verarbeitenden Gewerbe 40
Bediensteten im Handel, Transport
und Verkehr . 96
Arbeiter im Hotel- und Gast¬
gewerbe 44
Arbeiter in der Land- und Forst¬
wirtschaft . 134
Lebens- und Genußmittelarbeiter .. 211
Metall- und Bergarbeiter . 87
Textil-, Bekleidungs- und Leder¬
arbeiter . . . . 151
Post- und Telegraphenbediensteten 5
Arbeiter für persönliche Dienst¬
leistungen .,. . 65
1697
dem einzelnen Unternehmer und
dem Arbeiter keine Bestimmungen
iestgelegt werden, die für den Ar¬
beiter ungünstiger wären als
das Kollektivvertragsrecht.
Der Inhalt der Kollektivverträge
selbst betrifft alle Gebiete des
Sozialrechts. Ihre wesentlichste Be¬
deutung liegt auf dem Lohn¬
sektor. Während für die meisten
Bestimmungen des Arbeitsrechts Ge¬
setze vorhanden sind, wird die Fest¬
setzung der Löhne ausschließlich den
Koüektivverträgen überlassen. Ledig¬
lich dann, wenn Kollektivverträge in
Ermangelung des Unternehmerpart¬
ners nicht zustande kommen können,
ist die Erlassung von Mindestlohn¬
tarifen durch die Einigungsämter vor¬
gesehen.
Während also in den Kollektivver¬
trägen einerseits Lohnpolitik gemacht
wird, fallen ihnen anderseits aber
auch im arbeitsrechtlichen Teil große
sozialpolitische Aufgaben zu.
Die arbeitsrechtüchen Bestimmun¬
gen der Kollektivverträge sind die
Schrittmacher für den Aus¬
bau der Sozialpolitik.
Viele Sozialgesetze konnten erst
dadurch erreicht werden, daß die
Kollektivverträge entsprechend vor-
gearbertet hatten. So war zum Bei¬
spiel das Urlaubsrecht schon in einer
großen Anzahl von Kollektivvt rträ-
gen verankert, bevor es gesetzlich für
alle Arbeitnehmer festgeiegt werden
konnte.
Die Kollektivverträge sind eine Art
Barometer, in welcher Richtung' sich
die Sozialpolitik in nächster Zeit
entwickeln wird. Hier könnte eine
Unmenge von sozialen Begünstigun¬
gen, die über das derzeitige gesetz¬
liche Recht hinausgehen, genannt wer¬
den. Für einige Arbeitergruppen wur¬
den Abfertigungen vorgesehen.
Die Gewährung der Weihnachts-
Die Zeit, in der wir neuerlich
Staat und Volkswirtschaft aui-
bauen müssen, ist hart. Wir wer¬
den sie in gemeinsamer zäher
Arbeit und in der Hofinung auf
eine bessere Zukunft zu meistern
wissen.
Nationalrat Eiwin Altenbur¬
ger, Vizepräsident des österrei¬
chischen Gewerkschaftsbundes
remuneration ist nahezu ausschließlich
den Kollektivverträgen Vorbehalten.
In vielen Verträgen wurden Sonder-
begünsügungen im Urlaub, wie ein
erhöhtes Urlaubsausmaß, ein gesetz¬
liches Urlaubsentgelt, die Anrechnung
von Vordienstzeiten, die Regelung
im Falle der Krankheit während des
Urlaubs, vorgesehen.
Einen breiten Raum nehmen auch
die Bestimmungen über die Dienst¬
verhinderungen ein. Die knappen
Grundsatzbestimmungen des bürger¬
lichen Gesetzbuches werden in der
Rege] ausführlich ergänzt und den
Arbeitnehmern wird eine Lohnzah¬
lung auch während der Dienstver¬
hinderung für wesentlich längere Zeit¬
räume gesichert. Auch die Bestim¬
mungen über die Beendigung des Ar¬
beitsverhältnisses, Kündigungsfristen,
Kündigungstermine, Mitspracherecht
des Betriebsrates und so weiter, sind
in ausführlicher Form in den Koilek-
tivverträgen geregelt.
Im großen und ganzen kann die
Tendenz erkannt werden, daß sich
immer mehr Arbeitergruppen dem
bevorzugten Arbeitsrecht der An¬
gestellten nähern.
Je mehr Kollektivverträge einen
bestimmten Grundsatz enthalten,
desto eher.wird es möglich sein, die¬
sen für alle Arbeitnehmer im Ge¬
setz festzuiegen. Je besser die Arbeit¬
nehmer organisiert sind, desto eher
werden wir gute Kollektivverträge
erreichen. Unser Sozialrecht wird da¬
her nicht zuletzt davon abhängen,
wieweit die Arbeiter ihre Solidarität
und Verpflichtung gegenüber der Ge¬
werkschaftsbewegung erkennen.
Dr. G. W.
Einzelanmeldungen und Quartieranmeldungen zum 3. Gesamt¬
österreichischen Gewerkschaftstreffen werden bei der Zentralen
Festleitung, Wien, III., Rennweg 1, Tel. M 11-0-50, täglich außer
Sonntag von 8 bis 19 Uhr, noch entgegengenommen.
SOLIDARITÄT Nr. 197 Seite 3