Warum sind die Versammlungen schlecht besucht?
Unter diesem Titel brachten wir in
Nr. 196 d« „Solidarität“ vom 3. Au¬
gust eine Leserzuschrift, zu der ein
anderer Kollege mit folgenden Aus¬
führungen Stellung nimmt.
Funktionäre unserer Gewerkschafts¬
bewegung beschäftigen sich seit
langem damit, was zu tun sei, um das
Interesse für die Gewerkschaftsver¬
sammlungen zu erhöhen. Als Ursache
der Gleichgültigkeit für diese Ver¬
anstaltungen wird manchmal ange¬
führt, daß bei solchen Anlässen den,
verschiedenen Tagesfragen, wie Woh¬
nungsangelegenheiten, Werksküchen,
Fahrtmöglichkeiten usw., von den Re¬
ferenten zu wenig Augenmerk ge¬
schenkt werde.
Diese Annahme trifft jedoch nur im
geringen Maße zu, denn der schwache
Besuch der Versammlungen ist haupt¬
sächlich dem in unserer Zeit so häufig
in Erscheinung tretenden Umstand zu¬
zuschreiben, daß die Leute nur ungern
in den Betrieben sind und in ihrer
Freizeit nicht einmal an sie erinnert
werden wollen.
Die wenigsten Menschen haben
die Beschäitigung, die sie wirklich
wollen. Viele arbeiten nur, um ihre
und ihrer Angehörigen Existenz zu
sichern. Freude am eigenen Wirken
finden nur wenige.
Die meisten der in der Industrie
Beschäftigten sind sich bewußt, daß
ihre Kräfte und Fähigkeiten nicht ent¬
sprechend eingesetzt sind. Sie fühlen
sich daher an ihren Arbeitsplätzen un¬
befriedigt, fürchten dabei aber den¬
noch sie zu verlieren. Die vielleicht
nur vermeintlich drohende Arbeits¬
losigkeit wirkt allzu bedrückend und
läßt die Menschen resignieren.
In der Annahme, daß ihnen niemand
im Betrieb helfen wolle oder könne,
werden sie verbittert und trachten
nach Schluß jedes Arbeitstages sobald
wie nur möglich aus dem Betrieb her¬
auszukommen. Was in dieser Hinsicht
täglich am Feierabend zu beobachten
ist, kann ohne Übertreibung als
„Flucht aus dem Betrieb" bezeichnet
werden. Keine auch noch so inter¬
essante Veranstaltung findet die ge¬
bührende Beachtung, ob sie nun inner¬
halb des Betriebes abgehalten wird
oder auch bloß an die dort herrschen¬
den Verhältnisse erinnert.
Eine nicht geringe Anzahl von
Arbeitern und Angestellten fühlt sich
auch von der scheinbaren Kleinheit
und Alltäglichkeit der in den Gewerk¬
schaftsversammlungen behandelten
Fragen und Problemen abgestoßen. Es
darf keineswegs vergessen werden,
daß während des nationalsozialisti¬
schen Regimes die Massen bei den
verschiedenen Veranstaltungen jedes¬
mal aufgepulvert wurden. Vor jeder
Versammlung tat sich allerlei an Vor¬
bereitung. Marschmusik, spannungs¬
volles Warten auf den jeweiligen Red¬
ner, wohlverteilte Claqueurgruppen,
die für brausende Beifallsstürme und
donnerndes Siegheilrufen zu sorgen
hatten. Der Inhalt aller Reden war auf
Gemütserregung abgestimmt. All diese
Dinge leben noch immer in der dump¬
fen Erinnerung der Massenseele fort.
Unsere Gewerkschaftsversamm¬
lungen dagegen, die nicht nur sehr
nüchtern sind, sondern oft sogar
einen ausgesprochen kärglichen
Eindruck machen, können deswegen
auf die noch aus der faschistischen
Ära an starke Reizmittel gewöhnten
Gemüter nicht entsprechend wirken.
Natürlich soll damit nicht gesagt
sein, daß nunmehr die Gewerkschaft
sich eine tönende Phraseologie zu¬
legen und Massenkult betreiben soll.
Im Gegenteil — die Gewerkschaft
muß an den Einzelmenschen heran¬
kommen. Sie muß sich um seine Be¬
dürfnisse kümmern, die nicht immer
materieller Natur sind. Der Gewerk¬
schaftsfunktionär muß zum Ver¬
trauensmann im wahren Sinne
des Wortes, zum Mann des Vertrauens
im Betrieb werden. Er muß das Mi߬
trauen unter den arbeitenden Men¬
schen abbauen.
Es darf auch nicht außer acht gelas¬
sen werden, daß von manchen Leuten
die Notwendigkeit des Bestehens-der
Gewerkschaft nicht mehr anerkannt
wird, weil die sozialen Crenzen ver¬
wischt sind. In unserer Zeit stehen die
Arbeiter und Angestellten nicht mehr
dem Unternehmer schlechtweg gegen¬
über, der früher schon am ersten Blick
als Gegner zu erkennen war und deif
Typus des unsympathischen Kapita¬
listen darstellte.
Die Arbeiterschaft hat es jetzt zum
größten Teil mit ebenfalls für ihre
Tätigkeit entlohnten Leuten — den
Managern, die manchmal sogar selbst
der Gewerkschaft angehören — zu tun.
Es ist heute durchaus nicht leicht zu
unterscheiden zwischen hüben und
drüben.
Die Zeiten der Kämpfe um die
Grundrechte der Arbeiterschaft, die
so vielen Menschen seelischen Auf¬
trieb verliehen haben, sind längst
vorbei. Das Streiten um die anschei¬
nend kleinen Dinge des Alltags füllt
aber die Herzen nicht aus. Besonders
die Jugend ist es, die den Problemen
des Werktages ihrer angeblichen
Nüchternheit wegen ausweicht und
meist unbewußt nach gefühlsbeton¬
ten Zielen Sehnsucht hat.
Aber auch die älteren Jahrgänge
wollen nicht ausschließlich von Wirt¬
schaftsangelegenheiten hören. Sie
suchen nach Möglichkeiten der Aus¬
sprache über ihre persönlichen An¬
gelegenheiten. Ebenfalls unbewußt
verlangen sie, daß sie wenigstens für
eine Weile über ihr gewohntes see¬
lisches Niveau emporgehoben werden.
Es gilt also den Menschen zu zeigen,
daß der Kampf der Gewerkschaft nicht
um kleine unscheinbare Dinge geht,
sondern um die Befreiung der Men¬
schen von den Fesseln der noch immer
so zahlreichen Nöte des Lebens. Noch
immer drohen Krieg und Hunger, Seu¬
chen und Krankheiten aller Art sind
noch sonder Zahl zu besiegen. Die
lodernde Fackel der Kultur muß selbst
noch im Herzen des alten Europa
manch düstern Winkel erhellen. So
gibt es noch unzählige Ziele, um die
es sich lohnt zu kämpfen!
Die Gewerkschaft muß nur die Men¬
schen richtig ansprechen. Und den Ge¬
werkschaftsfunktionären muß es klar
sein, daß sie als wirkliche Freunde für
die andern zu handeln haben. Daß sie
sich von den Managern jeglicher Art
hauptsächlich dadurch unterscheiden
sollen, daß sie nicht nur wirtschaftlich
denken, sondern auch menschlich
empfinden können!
Philipp S i e g m e t h, Linz
fi« qCückCidtet gewinnet
Gastwirte als Zechpreller
Unter dem Titel „Lohnbefriedigt
ist nicht lohnbefriedigt" bringt das
Facbblatt der Gastgewerbeunter¬
nehmer „Der Gastwirt" am 15. August
folgenden Hinweis:
Wenn ein Angestellter oder Arbeiter
aus einem Betrieb austritt, so läßt sich
der Betriebsinhaber meist von dem Ar¬
beitnehmer eine Bestätigung unter¬
schreiben, daß er lohnbefriedigt sei. Der
Gastwirt glaubt, damit vor späteren For¬
derungen und anderen Überraschungen
gesichert zu sein. Dies ist aber nicht der
Fall.
Nach einer neuen Gerichtsentscheidung
bezieht sich das Wort ,,lohnbefriedigt’'
nur auf den laufenden Lohn, nicht aber
auf Überstunden, Remunerationen usw.
Wer also sicher gehen will, daß der
austretenae Arbeitnehmer keine nach¬
träglichen Forderungen stellen kann, muß
sich folgendes unterschreiben lassen:
Ich erkläre hiemit, aus meinem
Dienstverhältnis gegen Sie keine wie
immer geartete Forderungen mehr zu
haben. Unterschrift des Arbeitnehmers
Wenn der Dienstnehmer diese Be-
stätigung unteischreibt, kann er gegen
seinen Dienstgeber keine Forderungen
mehr stellen.
Das bedeutet nichts anderes als
eine Anweisung, wie man den Ar¬
beiter nach der Kündigung um seinen
schwerverdienlen rückständigen Lohn
bringt, also gewissermaßen eine
Zechprellerei der Gastwirte an ihren
Arbeitern. Da dies im Grunde ge¬
nommen einem Aufruf zum Diebstahl
gleichkommt, wäre eigentlich nur
noch hinzuzufügen, daß ein solcher
nach dem Strafgesetz verfolgt werden
müßte.
In unserem Preisausschreiben „Der
Weg zum guten Buch — und zu
einem Motorroller“ gewann den er¬
sten Preis, einen Motorroller in
Luxusausführung, Kollege Johann
P f a n d 1 aus Goisern. Am 9. Sep¬
tember überreichte ein Vertreter der
Redaktion dem glücklichen Gewinner
diesen schönen Preis. Ganz Goisern
wußte bereits von dem großen Ereig¬
nis, halb Goisern versammelte sich
zur Preisübergabe — und alle gönn¬
ten dem Gewinner dieses Glück von
Herzen.’
Johann Pfandl, der Gewinner des Motor¬
rollers
Johann Pfandl ist öffentlich Ange¬
stellter, 34 Jahre alt, verheiratet und
hat drei Kinder. Im Kriege wurde er
schwer verwundet: eine Granate riß
ihm den rechten Unterschenkel und
das ganze linke Bein weg. Trotz sei¬
nes schweren Gebrechens stellt er
im Leben voll und ganz seinen Mann.
In der Forstverwaltung Goisern gilt
er als tüchtiger und verläßlicher Be¬
amter und seit 1945 gehört er schon
seiner Gewerkschaft an. Er liest
auch immer aufmerksam die „Solida¬
rität" und das Fachblatt seiner Ge¬
werkschaft.
Mit Hilfe von Prothesen und
einem Stock kann sich Kollege
Pfandl sehr gut fortbewegen, aller¬
dings kostet ihm das viel Mühe. Um
die weiten Wege, die auf dem Land
ja immer zurückgelegt werden müs¬
sen, leichter bewältigen zu können,
hat er sich schon lange insgeheim
einen Motorroller gewünscht. Nun ist
dieser Wunsch in Erfüllung gegan¬
gen.
Als ihm der Motorroller übergeben
wurde, strahlte Kollege Pfandl vor
Freude über den schönen Gewinn.
Inzwischen hat er gelernt, mit einem
Motorroller zu fahren. Die „Solida¬
rität" hat ihm mit diesem Gewinn
neue Lebensfreude und neue Lebens¬
kraft gebracht. Wir wünschen ihm
„Gute Fahrt!"
Warum nicht auch bei uns?
Die Arbeit spielt eine so bedeutende
Rolle im Leben eines Volkes, daß es
eigentlich selbstverständlich und
durchaus angebracht wäre, wenn der
Männer und Frauen, die den Reichtum
eines Landes schaffen, auf den Mün¬
zen, den Briefmarken oder Banknoten
eines Landes gedacht würde.
So sind zum Beispiel in dem kleinen
Industrieland Luxemburg, dessen Wirt¬
schaft weitgehend auf der Stahlindu¬
strie beruhl, seit dem Vorjahr Ein-
Frank-Münzen im Umlauf, die neben
der Landes- und Jahresbezeichnung
das Bild eines Hochofenarbeiters an
der Arbeit zeigen.
Dieser schöne Gedanke hat sich in
Österreich leider noch nicht durch¬
gesetzt. Das Ein-Schilling-Stück zeigt
wohl die Figur eines Sämannes, alle
anderen Münzen beschränken sich
jedoch aut die Wertangabe und das
Staatswappen. Auch unter den Briei-
markenserien zeigt nur die sogenannte
Aufbau-Serie auf einigen Werten
arbeitende Menschen. Von unserer
Banknoien-Serie zeigt nur die Fünf-
Schilling-Note einen Techniker mit
Zirkel, alle anderen Noten zeigen
Landschaften und Gebäude.
Österreichs Künstler werden gewiß
— die Förderung der zuständigen Stel¬
len vorausgesetzt — unter den zahl¬
reichen typisch österreichischen Be¬
rufsgruppen eine Unzahl schöner
Motive arbeitender Menschen finden,
die unseren Zahlungsmitteln und Post¬
wertzeichen zum Schmuck gereichen
würden.
das Lied det Atßeit
Das Lied der Arbeit geht um die Welt,
es tönt aus Schächten und Hallen.
Das Lied der ganzen Menschheit gefällt
und wird verstanden von allen.
Laut dröhnt der Gesang im Hammerschlag,
laut braust er im Schwünge der Räder,
so klingt es heute und jeden Tag
und hören kann es ein jeder.
Wir sind und bleiben verbunden ihr
und halten die Treu" ihr durchs Leben,
wir spüren die Kraft und kämpfen dafür
und wollen das Letzte ihr geben.
. Steffi Gerl
Dieses Gedicht hat Kollegin Gerl dem
Gewerkschaftsbund anläßlich der 60-Jahr-
Feier in Erinnerung an ihren ver¬
storbenen Gatten, der durch 35 Jahre
hindurch der Gewerkschaftsbewegung die
Treue bewahrt hatte, gewidmet.
VERANSTALTUNGSKALENDER
6. Oktober 19 30 Uhr
Großer Konierthaussaal
Wien, Hl., Lothringerstraße 20
Modenschau
Kostenlose Eintrittskalten sind im Verlag des
österreichischen Gewerkschaftsbundes, Wien,
III., R e n n w e g 1, Gassenlokal, Telephon
M 11-0-50, Klappe 61, und in den Gewerk¬
schaftssekretariaten erhältlich.
SOLIDARITÄT Nr. 200 Seite 3