Wir wollen kein
V :
Die 536.000 Besucher der Ausstellung
„Gesünder leben, länger leben durch
soziale Sicherheit" im Wiener Künstler¬
haus haben am meisten über die wirk¬
same Darstellung des katastrophalen
Geburtenrückganges in Österreich dis¬
kutiert. Ein Besucher der Ausstellung
hat der „Solidarität" in einem Brief
seine Eindrücke von der Ausstellung
geschildert. Wir haben diesen Brief in
der Nummer 200 der „Solidarität" auf
der letzten Seite veröffentlicht.
Nachstehend ein Brief eines Kolle¬
gen, der die Meinung dieses Brief¬
schreibers nicht teilt und anschließend
dessen Antwort.
Sehr geehrt« Redaktion!
In der Nummer 200 der „Solidarität“
las ich einen Brief an die Ausstel-
lungsleitunj, den ein Herr Obermüller
zeichnet. Obwohl ich das Gefühl
habe, daß dieser Herr Obermüller gar
stamme, in der 11 Kinder großge¬
zogen wurden, so glaube ich schon,
über das Problem der Geburtenrege¬
lung sprechen zu können.
An die 130.000 Arbeitslose gibt es
jetzt in Österreich; im kommenden
Winter, der vor der Tür steht, können
wir mit 500.000 rechnen, und Sie, Herr
Obermüller, haben keinen anderen
Kummer, als daß die jungen Leute
Kinder bekommen sollen. Sie schrei¬
ben: „ös terreich hat die nie¬
derste Geburtenziffer in
Europa!*
Das kann doch für uns Österreicher
nur ehrenvoll sein, denn wir sind
wenigstens auf diesem Gebiete nicht
so blöd, für wie man uns sonst im
allgemeinen hält. Herr Obermüller,
ich möchte Ihnen anempfehlen, ein
bißchen Literatur über China und
Japan zu lesen. Was dort ein Men¬
schenkindlein, das an die Tür klopft,
wert ist! Oder haben Sie schon auf
die halbe Million Todesopfer von
mW sielt.
Natürlich sind Arbeitslosigkeit und Woh¬
nungsnot auch oit Beweggründe, die man¬
chen Eheleuten den Kindersegen ver¬
wehren,
nicht existiert und nur eine vorge¬
schobene Figur ist, will ich versuchen,
ihn auf schwere Fehler aufmerksam
zu machen, die er begeht, wenn er
Behauptungen aufstellt ohne das zu
behandelnde Problem von mehreren
Seiten zu betrachten.
Uber die Kardinalfrage der Kinder¬
zeugung sagen Sie, Herr Obermüller:
„Sind es nicht auch unser Egoismus
und unsere Bequemlichkeit, die dem
neuen Leben den Weg versperren?"
Entschuldigen Sie, Herr Obermüller,
aber haben Sie die letzten 25 Jahre
verschlafen oder so schnell verges¬
sen? In einer Epoche zweier bestia¬
lischer Weltkriege, in der man die
beste Jugend hekatombenweise hin¬
mordete, in einer Zeit, wo 10.000 Lehr¬
linge keinen Beruf erlernen können,
weil eben kein Platz vorhanden ist,
wo die staatlichen Zuchthäuser mit
Jugendlichen überfüllt sind, die Ver¬
brecher wurden, weil den Unglück¬
lichen das Morden und Plündern von
staatswegen eingedrillt wurde und
sie noch dafür Medaillen bekamen
— in so einer Zeit machen Sie, Herr
Obermüller, den jungen Eheleuten
den Vorwurf von Egoismus und Be¬
quemlichkeit! Ehepaaren, die getrennt
leben müssen, deren Eltern vielleicht
ausgebombt sind, die keine Wohnung
bekommen können, weil eben keine
vorhanden sind!
Auch ich und meine Frau waren in
dieser Ausstellung und haben uns die
Tafeln und Statistiken, auch alles an¬
dere angesehen, wobei wir feststellen
müssen, daß die Ausstellung schön
und lehrreich war. Aber, Herr Ober¬
müller, ich kenne auch andere Stati¬
stiken, die besagen, daß noch 10 bis
15 Jahre vergehen können, bis die
Wohnungsnot gänzlich behoben sein
wird. Da ich aus einer Familie
Vielen Ehepaaren aber sind leider ein
Motorroller, kostspielige Urlaubsreisen
und persönliche Vergnügungen wichtiger
als ein Kind.
Hiroshima und Nagasaki vergessen?
Wie lange kann es noch dauern,
und die nächste Atombombe kann auf
Wien, Paris oder London fallen?
Sehen Sie, Herr Obermüller, das ist
der wahre Grund, warum die Men¬
schen in de* Mehrzahl das Kinder¬
kriegen ablehnen. Als ich in der Mit¬
tagspause eines Großbetriebes Ihren
Brief meinen Kollegen vorlas, da
kamen Sie schlecht davon. Ersparen
Sie mir, Ihnen alle Titulationen, die
auf Ihren werten Namen fielen, mitzu¬
teilen.
Als Arbeiter, der seit 38 Jahren
gewerkschaftlich organisiert ist, grüßt
/
lyyyn
Wetter Kollege Cihak!
Ihr „Gefühl, daß dieser Herr Ober¬
müller“ gar nicht existiert, hat Sie
leider getäuscht. Ich existiere tat¬
sächlich, und die Redaktion der „Soli¬
darität" hat mir Ihren Brief zur Stel¬
lungnahme übersandt. Meine Adresse
ist ihr bekannt.
Ich habe meinerseits das Gefühl,
daß Sie sich beim Schreiben Ihres
kritischen Briefes eben nur von Ge¬
fühlen leiten ließen und an unabän¬
derlichen Tatsachen vorbeigesehen
haben.
Sie geben selbst zu, daß ich ge¬
schrieben habe „auch unser Egois-
ü Wadi
SZfCei (fotiefc einem etnsten fitoßiem
mus und unsere Bequemlichkeit sind
schuld daran, dem neuen Leben den
Weg zu versperren". Mit dem Wort
„auch“ habe ich doch deutlich zum
Ausdruck gebracht, daß ich ganz
genau, so wie Sie, die anderen Be¬
weggründe sozialer und wirtschaft¬
licher Natur kenne, die manchen Ehe¬
leuten den Kindersegen verwehren.
Wenn Sie sich den betreffenden Teil
der Ausstellung wirklich gründlich
angesehen hätten, so wäre Ihnen klar
geworden, was ich mit meinem Hin¬
weis auf das Thema Kindersegen ge¬
meint habe.
Ich habe die letzten 25 Jahre nicht
verschlafen, wie Sie annehmen, son¬
dern die zwei Weltkriege ebenso mit¬
gemacht, wie Sie, nur habe ich das
Gefühl, daß ich, obwohl ich noch
nicht 38 Jahre gewerkschaftlich orga¬
nisiert bin, soziale Probleme mit kla¬
reren Augen sehe als Sie.
Sie schreiben zum Beispiel von
zehntausenden Lehrlingen, die keinen
Beruf erlernen können. Gewiß ist das
Lehrlingsproblem noch nicht völlig
gelöst, aber durch das Jugendeinstel¬
lungsgesetz wird es möglich sein, das
beweisen die schönen Anfangserfolge,
daß in kurzer Zeit zumindest sämt¬
liche männlichen Jugendlichen zu
Lehrplätzen kommen.
Wer soll einmal unsere Renten unü Pen¬
sionen bezahlen, wenn der Kindersegen
als „sinnlos“ bezeichnet wird?
Sie schreiben ferner, daß die staat¬
lichen Zuchthäuser mit Jugendlichen
überfüllt sind. Das trifft ebenfalls
nicht zu. Die Jugendkriminalität ist
relativ in dieser Zeit nicht größer, als
sie um die Jahrhundertwende und
nach dem ersten Weltkrieg war.
Ich mache „jungen Eheleuten, die
getrennt leben müssen, und deren
Eltern ausgebombt sind" keinen Vor¬
wurf, daß sie aus Egoismus oder Be¬
quemlichkeit keine Kinder bekom¬
men. Mein Vorwurf richtet sich viel¬
mehr gegen jene kurzsichtigen und
wirklich egoistischen Eheleute, die
finanziell alle Voraussetzungen haben,
einem oder mehreren Kindern das
Leben zu schenken, und die es doch
nicht tun, weil das Interesse für ihre
Mitmenschen und für die Allgemein¬
heit bei ihrer Türschwelle endet. Sie
schreiben, daß Sie aus einer Familie
stammen, in der 11 Kinder großgezo¬
gen wurden. Lieber Herr Cihak, haben
Sie einmal Ihre Eltern gefragt, wa¬
rum sie 11 Kindern das Leben ge¬
schenkt haben? Und haben Sie die
Sorgen und Mühen Ihrer Mutter
schon einmal mit denen einer kinder¬
losen, jungen Ehefrau verglichen, die,
obwohl sie eine Wohnung und ein
Einkommen besitzt, nur deshalb kein
Kind bekommen will, weil sie dadurch
auf viele Lebensannehmlichkeiten
verzichten müßte?
Ihr Pessimismus, mit dem Sie an
wichtige Probleme herantreten, geht
schon aus der Tatsache hervor, daß
Sie vermuten, wir werden heuer im
Winter mit einer halben Million Ar¬
beitslosen rechnen müssen. Es gibt in
Österreich bestimmt keinen vernünf¬
tigen Menschen, der die Gefahr der
Arbeitslosigkeit für unser wirtschaft¬
liches und soziales Leben nicht er¬
kennt. Aber ich glaube, es gibt auch
sehr wenige, die derart schwarz in die
Zukunft sehen wie Sie. Bei aller
Kritik muß man doch so objektiv
sein, zuzugeben, daß die Anstrengun¬
gen des Staates und der Gewerk¬
schaften, die Arbeitslosigkeit einzu¬
dämmen, bereits, wenn auch nicht in
einem befriedigenden, so doch in
einem beachtlichen Ausmaß Erfolg
hatten.
Und nun richte ich an Sie eine
„Kardinalfrage“: Wer wird Ihre Al¬
terspension oder Ihre Rente einmal
bezahlen, wenn nicht die Kinder,
deren Eintritt in das Leben Sie als
sinnlos bezeichnen? Bereits jetzt zei¬
gen sich die Folgen der Überalterung.
Oder haben Sie noch nichts davon
gehört, daß auf zwei Verdiener Jae-
reits ein Rentner kommt?
Wenn Sie nun schreiben, daß es für
Österreich ehrenvoll ist, daß es die
niederste Geburtenziffer in Europa
hat, dann rate ich Ihnen, daß Sie
außer der „Literatur über China und
Japan“ auch österreichische Sozial-
und Wirtschaftslehre studieren. Denn
dann wird Ihnen in ganz kurzer Zeit
klar werden, daß alle österreichischen
Sozialgesetze und Errungenschaften
für den Arbeiter hinfällig werden,
wenn nicht qualitativ und ziffern¬
mäßig, ein entsprechender Menschen-
nachvvuchs vorhanden ist.
Sie meinen, es wäre sinnlos, Kinder
in die Welt zu setzen, die ohnehin in
der nächsten Zeit durch Bomben wie¬
der getötet werden. Was aber dann,
Herr Cihak, wenn keine Bomben fal¬
len, und wenn das Ziel, das alle ar¬
beitenden Menschen auf der Welt
verfolgen, der Friede, tatsächlich er¬
reicht wird? Könnte es der jetzt
lebenden Generation dann gleich¬
gültig sein, wer für sie die sozialen
Lasten im Alter bezahlt?
Abschließend hätte ich noch einen
Wunsch, und zwar, daß Sie in der
Mittagspause den Kollegen Ihres Be¬
triebes diesen Brief ebenfalls vorlesen.
Ich glaube, daß ich dann nicht mehr
so schlecht davonkäme, wie Sie mir
das mit etwas Schadenfreude mitge¬
teilt haben. Ich habe vielmehr den
Eindruck, daß einige Ihrer Arbeits¬
kollegen meinen Argumenten doch
Verständnis entgegenbririgen werden.
Hochachtungsvoll
Seite 4 Nr. 203 SOLIDARITÄT