Das Wagnis ist gelungen. Trotz der
Erschöpfung, eine Autnahme von dem
heiliersehnten Ziel.
1 J)ie (fyeYge Yu§en!
Ewig und ungestüm ist der Drang des Menschen zum Licht und zu den
Höhen ewig, ungestüm und opfervoil! Dieser Drang findet in vielen Betäti¬
gungen der Menschen seinen Ausdruck. Da ist der Gelehrte, der die letzten
Geheimnisse der Materie erforschen will, da ist der Künstler, der dem Emp¬
finden der Seele und dem Flug der Gedanken sicht- und hörbaren Ausdruck
verleiht, da sind die Arbeiter und Angestellten, deren Können der Idee die
letzte Form gibt, und da sind schließlich die Menschen, die ein unerklärlicher
Zwang immer wieder hinauszieht aus der Enge des Alltags — den Gipfeln
der Berge und damit der Sonne entgegen. Von einem dieser Menschen soll
ier die Rede sein. Er hat durch seine hervorragende Leistung bewiesen, daß
jener Drang zum Licht und zu den Höhen auch in den Herzen der so oft
gelästerten und verleumdeten „heutigen" Jugend wurzelt. Und daß diese
Jugend auch bereit ist, hohen ethischen Zielen ein Opfer zu bringen.
Ein junger Arbeiter
bezwingt die
Hochstadl-Nord wand
rechtes Gefühl mehr in den Füßen,
aber jede Minute bringt ihn höher.
Jede Minute? Er hat den Zeitbegriff
verloren. War es nicht gerade erst
Mittag gewesen — und jetzt? Der
Toni hat den Einbruch der Dämme¬
rung gar nicht bemerkt. Es ist allmäh¬
lich stockfinster geworden, er sieht
die Hand nicht mehr vor den Augen
und steht noch dreihundert Meter
unter dem Gipfel.
Nun beginnt die schrecklichste
Nacht seines Lebens. Er hat keine
„.. . dann bin ich oben g'standen
auf dem Gipfel. Niemand war mehr
über mir, nur der Himmel und die
Wolken. Und da hab' ich auf alle
Strapazen vergessen, auf die g'frorenen
Finger und auf die bitterkalte Nacht.“
Mit diesen einfachen Worten hat mir
der Gerbergeselle Anton Niederreiner
im Lienzer Krankenhaus den Augen¬
blick geschildert, da er nach einer
grauenvollen Nacht mit gefrorenen
Fingern und Zehen die letzten drei¬
hundert. Meter der Hochstadl-Nord¬
wand bezwungen hatte. „Niemand
war mehr über mir, nur der Himmel
und die Wolken." Liegt in diesem
Satz nicht die Erfüllung des ewigen
Dranges der Menschheit nach Freiheit
und Licht? Wird bei solchen Worten
nicht auch jenen, die für den Berg¬
steiger immer nur ein verständnis¬
loses Lächeln übrig haben, die Bedeu¬
tung einer überragenden menschlichen
Leistung klar? •
Der 22jährige Niederreiner-Toni
aus Iselsberg, der am Montag, dem
25. Jänner 1954, als erster allein die
1500 Meter hohe Hochstadl-Nordwand
im Winter bezwang, hat eine Formel
gefunden für den Freiheitsdrang und
die Lebensbejahung unserer Jugend
— „Niemand war mehr über mir, nur
der Himmel und die Wolken."
*
An einem Sonntag steht der Toni
schon um zwei Uhr früh auf. Er will
die Schneeverhältnisse auf der Hoch-
stadl-Nordwand erkunden, weil er vor¬
hat, mit seinem Freund nächste Woche
eine Winterbesteigung dieser steilen
Felswand zu versuchen.
Der Niederreiner-Toni und sein
Freund können immer nur das
Wochenende zu ihren Touren ver¬
wenden. Während der ganzen Woche
hält sie die Enge der Fabrik gefangen,
aber der Samstag und Sonntag ge¬
hören ihren geliebten Bergen.
Um Viertel acht ist der Toni bei
der Nordwand angelangt. Er wird nur
bis zum Sömmeraufstieg klettern.
Weiter will er gar nicht, weil er als
gewissenhafter Bergsteiger weiß, daß
man nur mit Fußeisen und Pickel aus¬
gerüstet die Wand im Winter nicht
bezwingen kann. Die Wetterverhält¬
nisse sind überaus günstig. Bis zu
2500 Meter sind die Schneeflächen
verharscht, es besteht also keine
Lawinengefahr. In zweieinhalb Stun¬
den hat der Toni die halbe Wand
überwunden.
Aber das ideale Bergsteigerwetter
lockt ihn. Ein paar Meter noch, jetzt
ist er bereits über den Winteraufstieg
hinaus. Da oben ist der Gipfel, und
wer. weiß, wann wieder so ein günsti¬
ges Wetter kommt. Höher, immer
höher, noch ein Stück und noch eine
Klippe, und auf einmal hat es den
Niederreiner-Toni gepackt.
Er sieht nur mehr das Ziel, den
Gipfel, vor sich. Die Kraft und der
Mut seiner Jugend haben hier einen
Gegner gefunden. Schlag, um Schlag in
Eis und Gestein, Schritt für Schritt,
Meter um Meter schiebt, klemmt und
zieht er sich höher. Er fühlt nicht, wie
das scharfe Eis die Handschuhe durch¬
scheuert, wie Stunde um Stunde ver¬
geht und wie es kälter und kälter
wird.
Zweimal schon hat er sich ver-
stiegen, ist erst zu weit rechts, dann
Seite 4 Nr. 210 SOLIDARITÄT
Auf der im Bild mit einem Dreieck bezeichneten Stelle
hat Niederreiner bei grimmiger Kälte eine ganze Nacht
verbringen müssen.
Die Ärzte im Lienzer Krankenhaus wenden ihre ganze
Kunst an, um die Erfrierungen Anton Niederreiners zu
heilen.
zu weit links abgekommen. Was
macht das aus? Er muß hinauf. . . Da
aber erwacht in ihm mit einem Male
eine furchtbare Gewißheit. Mit Ent¬
setzen in den Augen starrt er auf die
fast 1000 Meter senkrecht abfallende
Wand unter sich. Er m u ß hinauf...!
Denn hinunter kann er jetzt nimmer.
*
Noch einmal lodert alle Kraft in
ihm auf. Der Kalkstein brennt ihm in
den wunden Fingern, und er hat kein
Die vom Einstieg bis zur Spitze 1500 Meter hohe Hochstadl-Nordwand
Decke, sein Proviant ist eingefroren
und seine Handschuhe hängen in Fet¬
zen von seinen kältesteifen' Händen.
Zwölf Stunden steht er in dieser
Nacht unter einem überhängenden
Felsblock, die Temperatur ist auf
20 Grad unter Null gesunken. Er muß
sich ständig bewegen, um nicht zu
erfrieren, jeder unvorsichtige Schritt
aber kann ihm das Leben kosten.
Anton Niederreiner hat diese Nacht
überstanden. Bei Morgengrauen ist er
zum Gipfel aufgestiegen: „In welchem
Zustand?" Der Toni lächelt etwas
wehmütig, als ich diese Frage an ihn
richte. Dann deutet er auf seine er¬
frorenen Hände: „Der Doktor hat
g'sagt, die Finger werd' ich erhalten,
Auffi hab’ ich jedenfalls müssen!"
Was ist an dieser Leistung so be¬
deutsam, werden manche fragen? Wal¬
es vielleicht doch nur Rekordsucht, die
ihn zu diesem alpinistisch nicht vor¬
bereiteten Aufstieg veranlaßte? Reden
wir hier gar einer verwerflichen Sen¬
sationsgier das Wort?
Nichts von alledem! Der Nieder-
reiner-Toni ist ein einfacher Arbeiter,
der sich die 3500 Schilling, die seine
Bergs teigerausrüstung kostete, müh¬
sam Zusammengespan hatte. Viele
Berge der Glocknergruppe hat er be¬
zwungen, alles Berge seiner Heimat.
Für große Expeditionen und Aus¬
landsfahrten reicht es bei ihm wie bei
so vielen seiner Bergfreunde nicht.
Aber er liebt die Berge, und vielleicht
hat ihn diese Liebe die gefährliche
Hochstadl-Nord wand hinaufgetrieben,
ohne richtig ausgerüstet zu sein.
Doch das schmälert seine Leistung
nicht. Der junge Gerbergeselle Anton
Niederreiner wollte keine Sensation
erregen, und doch hat er mit seiner
Besteigung klar bewiesen, zu welcher
Kühnheit und zu welchem Opfermut
auch ein einfacher junger Arbeiter
fähig ist, wenn es gilt, einer Gefahr
zu trotzen.
Toni Niederreiners Leistung ist
symbolisch für die heutige Jugend, die
genau so wie ihre Väter und Gro߬
väter die Fesseln des beengenden All-
tags sprengen will und Sehnsucht hat
nach den Höhen des Lebens. Gebt
dieser so oft verkannten Jugend ein¬
mal Aufgaben zu bewältigen, dann
erst urteilt über sie! f. n.