Nervensäge — ßHmt
(Die Harmplage bedroht unsere Gesundheit
Vn-
Viele Menschen und viele Dinge
neigen dazu, Lärm zu entwickeln.
Diese Feststellung ist weder gegen
meinen flügelhornbl äsenden Nachbarn
noch gegen das Zweitaktmotorrad un¬
seres Hausbesorgers gerichtet; sie ist
lediglich ein resignierter Stoßseufzer
eines lärmgeplagten Großstädters. Es
ist verwunderlich, was alles Lärm er¬
zeugen kann. Ich kenne einen Häuser¬
block, in dem mehr als fünfzig
„Das donnert und kracht, daß es eine
Freude ist. Die Leute aus der Um¬
gebung sollen sehen, was ich iür eine
schöne Maschine hab’!"
1 amilien, jedesmal wenn die Wind¬
geschwindigkeit fünfzehn Stunden¬
kilometer erreicht hat, durch einen
zermürbenden Lärm belästigt werden.
Denn bei 'großer Windstärke begin¬
nen sich dort einige, wahrscheinlich
imgeschmierte Blechaufsätze auf den
Schornsteinen zu drehen. Der Lärm,
der dabei entsteht, bringt die ganze
Umgebung zur Verzweiflung. Warum
die Blechaufsätze nicht geschmiert
werden?! „Unbefugten ist das Be¬
steigen des Daches verboten" — und
Befugte sind bisher nirgends zu
eruieren gewesen.
Das ist nur eine von den vielen
hinterhältigen, doch vermeidbaren
Lärmquellen, die uns täglich das
Leben vr.rhittern.
Lärm an allen Ecken und Enden
Sie glauben es nicht? In Österreich
werden fünfzig Prozent der Bevölke¬
rung in der Zeit von fünf bis acht Uhr
morgens durch die „Pistolenschüsse"
der tausenden angetretenen 38- bis 600-
kubikzentimetrigen (Höllen-(Maschi¬
nen aus dem Schlaf gerissen. Es gibt
Motorräder, die einen Lärm von
120 Phon entwickeln (Phon ist die
Einheit der Schallintensität), gegen
solche Geräusche klingen die Flügel-
hornübungen ; meines Nachbarn wie
Harlenklänge.
Dabei habe ich gar nichts gegen
Motorräder, im Gegenteil, eine
„Maschin"' ist seit Jahren der Mittel¬
punkt meinei Wunschträume. Noch
weniger habe ich gegen die Motor¬
radbesitzer: ein Benzinmotor ist eben
kein Glockenspiel, und angetreten
muß jedes Motorrad werden. Aber
wäre es nicht möglich, Motorräder
auf den Markt zu bringen, bei denen
die Explosionsprozesse im Zylinder
nicht die Lautstärke von Böllerschüs¬
sen erreichen? Oder ist es notwen¬
dig, daß der glückstrahlende Besitzer
eines Motorrades seine gequälten Mit¬
bürger auch pho.netisch von der Qua¬
lität seines Vehikels überzeugen will,
indem er vor jeder Abfahrt einige
Male kräftig „aufdreht"?
Betrieb iwischen Wohnhäusern
Aber die Lärmplage ist ein ernstes
Problem geworden, das sich mit eini¬
gen lustigen Randbemerkungen nicht
mehr abtun läßt. Hier führe ich aus¬
zugsweise einen Brief einer Familie
aus dem 5. Wiener Bezirk an. Er ist
eine schwere Anklage gegen den
1 Lärm.
„In den Hof unseres Häuserblocks
wurde während des Krieges aus
. U .wehrwirtschaftlichen Gründen' eine
Tischlerei hineingezwängt. Sie exi¬
stiert heute noch, und das Geheul
ihrer oft auch an Sonn- und Feiertag
laufenden Kreissäge und der Lärm
und Gestank eines zum Betrieb ge¬
hörigen Dieselmotors machen uns das
Leben hier zur Qual. Kein Gewerbe-
inspektorat kümmert sich darum,
daß diesem ständigen Angriff^ auf die
Gesundheit vofw-vtefga "Arbeitern und
~~ A ngestellten — denn sie sind haupt¬
sächlich die Bewohner dieser Hof¬
wohnungen — ein Ende bereitet
wird ..."
Ich habe mich davon überzeugt,
daß alle Angaben in diesem Brief
richtig sind. In diesem Zusammen¬
hang konnte ich aber noch folgendes
feststellen: Fast sechzig Prozent aller
Wiener gewerblichen Betriebe sind
isö'TffiTergebrärhT,- daff~ste' mnTfr^aEir
Krankheitsursache - Lärm
„Der nächste, bitte.” — ln der Or¬
dination eines Arztes in einem Wie¬
ner Vorstadtbezirk sitzt ein etwa
fünfzigjähriger Mann und klagt über
erhöhten Blutdruck und eine radikale
Verschlimmerung seines Herzleidens.
Auch eine früher nie gekannte stän¬
dige Erregung und zermürbende
Schlaflosigkeit machen ihm viel zu
schaffen.
„Beruf?" Der Arzt macht eine be¬
sorgte Miene, doch als er erfährt, daß
sein Patient Schmied ist und den gan¬
zen Tag mit einem Niethammer ar¬
beitet, hat er seine Diagnose rasch
gestellt: „Krankheitsursache Lärm".
Ein Hörschutzgerät, das die so schäd¬
lichen hohen Töne abhält, ist die ein¬
zige Möglichkeit, daß der lärmemp¬
findliche Patient seinen Arbeitsplatz
behalten kann.
„Lärm ist für den Körper sehr ge¬
fährlich", erklärt ijiir der Arzt, „zum
Beispiel wurde an der Pariser Univer¬
sität Sorbonne nachgewiesen, daß in
Frankreich jeder fünfte Kupfer¬
schmied durch den Lärm sein Gehör
verloren hat. An. Arbeitern in Seiden¬
spinnerein, Webereien, Sägewerken,
Kesselschmieden und anderen Lärm¬
betrieben sind ebenfalls oft schwere,
durch den ständigen Lärm verursachte
. Gesundheitsstörungen zu konstatie¬
ren. Welch ein Feind des Menschen
der Lärm ist“, sagt der Arzt abschlie¬
ßend, „beweist die Tatsache, daß Men¬
schen, die sich freiwillig zu Versuchs¬
zwecken in das Schallfeld von Düsen¬
motoren bringen ließen, bewußtlos zu¬
sammenstürzten;_
Wenn einer musisch angeregt
zu Hause seine Pauke schlägt
zur Übung, ist es jedem lieber,"
er wohnt nicht drunter oder drüber.
Menschen im allgemeinen nervlich
belasten.
Zur Verhütung der dauernden Schä¬
digung des Gehöres der Beschäitiyu :
in den Lärmbetrieben muß durch die
Sicherheitsingenieure und die Arbeits¬
inspektoren die Lärmentwicklung auf
das geringstmögliche Maß herab¬
gesetzt werden. Weiters müssen durch
Schutzeinrichtungen für die betreffen¬
den Arbeiter (Ohrenschützer, Ver¬
stopfen der Ohren mit ölgetränkter .
Watte, Oropax u. v. a.) die Schädi¬
gungen des Gehörorgans verhütet
werden.
In vielen Fällen ist die Herabset¬
zung der Lärmentwicklung nicht mög¬
lich und auch die Anwendung von
Lärmschutzmitteln ungenügend, so daß
es nach einer gewissen Zeit zu Gehör¬
schädigungen kommt. Arbeiter in i
Lärmbetrieben, die über Benommen¬
heit, Kopfschmerzen, Ohrensausen und
Schwindel klagen, sind ärztlich zu
überwachen und zu beraten, da diese
Beschwerden in den meisten Fällen
die ersten Zeichen einer Lü i msclnub -
unvermeidlichen Lärm des Arbeits¬
prozesses die Ruhe ihrer Umgebung
stören.
Hier taucht ein fast unlösbares Pro¬
blem auf. Denn würden die Behörden
auf Grund der gegenwärtigen stren¬
gen Bau- und Sicherheitsvorschriften
gegen diese Betriebe Vorgehen, so
müßten in Wien und auch in anderen
Städten Österreichs wahrscheinlich
viele Unternehmungen ihre Erzeugung
einstellen. Wie viele Arbeitslose gäbe
es da wieder mehr!
Abhilfe kann nur geschaffen wer¬
den, wenn die Betriebsinhaber, die
ihre Konzessionen vor vielen Jahr¬
zehnten, als die Stadt noch nicht so
Gegen so einen
Lärm ist man
machtlos. Die Ruine
muß weg, und ein
Betonbohrer mit
Harfenklängen ist.
leider noch nicht
erfunden.
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«mm Säfig
I ! »
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Ob ein Holzlager-
mfte
platz mit Kreis-
gung sind. Sehr oft wird dannzm^^
Vermeidung dauernder Geh^cscbärteti
der Arbeitsplatzwechsel - empfohlen
werden müssen.
Sehr- wichtig ist auch das Problem
des immer mehr zunehmenden Gro߬
sägebetrieb mitten stadtlärms. Besonders durch den
t® »_ Lärm in der Nacht wird der ruhe¬
bedürftige Großstadtmensch sehr
stark belastet und geschädigt. Hier
könnte durch vernünftige, gesetzliche
Maßnahmen sehr ausgiebig und rasch
geholfen werden."
in eine Wohnhaus¬
anlage einer Pro¬
vinzstadt paßt, ist
eine Frage, die das
Gewerbeinspekto-
rat beantworten
müßte.
dicht verbaut war, erhalten haben,
alle technischen Hilfsmittel einsetzen,
uni die Bewohner ihrer Umgebung so
Wenig als möglich zu stören. Darauf
zu achten, daß diese unbedingt not¬
wendige Rücksicht auch geübt wird,
müßte Aufgabe der Behörden sein.
Auch die Kraftfahrzeuglenker mü߬
ten auf die Bewohner von Dörfern
und Kleinstädten, durch die eine
Hauptstraße führt, mehr Rücksicht
nehmen und unnötiges Hupen ver¬
meiden.
Kampf dem Lärm
Ich spreche mit dem Chefarzt der
Wiener -Gebietskrankenkasse, Sani¬
tätsrat Dr. Tuchmahn. Hier seine Fest¬
stellungen über die Schädlichkeit des
Lärms: ? .
„Vom ärztlichen Standpunkt sind
zwei Arten von Lärmschädigungen zu
unterscheiden: 1. die Gehörschäden,
die durch den Beruf verursacht wer¬
den, und 2. Lärmschäden allgemeiner
Art, die das Gehörorgan weniger oder
gar nicht schädigen, sondern nur den
Vor längerer Zeit hat sich das Ar¬
beitsinspektorat zusammen mit Spe¬
zialisten für Unfallverhütung und Ar¬
beitshygienikern mit der Bekämpfung
der Lärmplage befaßt. Nun ist es
leider wieder still geworden in dieser
für die gesamte Bevölkerung so wigj*''
tigen Angelegenheit. Es -ist abejpaiot-
wendig, alle verfügbaren Mifter gegen
den Lärm einzusetzen, d^wft die letz¬
ten wissenschaftlich^*!'* Forschungs-"
ergebnisse haben bewiesen, daß sich
niemand an den Lärm gewöhnen
kann, und daß sich seine schädlichen
Folgen für den Menschen in irgend
einer Form auf jeden Fall einmal ein-
slellen. (? n-
Seite 4 Nr. 214 SOLIDARITÄT
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