Gegenwärtig sinken aber die Lebens¬
haltungskosten, langsam ab, und es ist
vernünftiger, weiterhin aufmerksam,
diese Entwicklung zu beachten und
vorwärtszutreiben, als sie durch all¬
gemeine Lohnforderungen ins Gegen¬
teil zu verkehren.
Weder Zölle noch ein zu forcierter
Export dürfen die Preise in die Höhe
treiben. Durch Erhöhung der Kauf¬
kraft auf Grund der Sicherung eines
Anteils an der gestiegenen Produktivi¬
tät für die Arbeiter und Angestellten
muß die Konsumkraft im Inland ge¬
hoben werden. Der Kampf um die
Vollbeschäftigung ist ein weiterer
Impuls zur Hebung des Umsatzes. Und
schließlich soll durch den Ausbau der
Sozialversicherung der Staatsbürger
in sozialen Notständen, bei Krankheit
und im Alter ausreichend versorgt
sein.
Der Weg des Gewerkschafts¬
bundes ist also sehr klar und ziel¬
bewußt. Welcher andere Weg
könnte wirklich gegangen werden?
Schalten wir unseren Unmut aus,
und wir werden keinen besseren
Weg finden! Dem Gewerkschafts¬
bund und seinen verantwortlichen
Funktionären ist es nicht um Popu¬
laritätshascherei zu tun, und sie
lehnen jede Demagogie ab. Auch
auf die Gefahr hin, daß ihre Argu¬
mentation nicht immer gleich ver¬
standen wird,
treten sie doch aus Verantwortungs¬
bewußtsein für den richtigen Weg
ein, der zwar keine Augenblicks¬
erfolge bringt, die bald wieder in
nichts zerrinnen, dafür aber um so
zielführender ist.
Es ist auch nicht wahr, daß die
Lebenshaltung der Arbeiter und An¬
gestellten abgesunken ist, im Gegen¬
teil, sie steigt — wie schließlich jeder
Arbeiter und Angestellte und jede
Hausfrau selbst feststellen kann —
langsam, wenn auch lange noch nicht
in einem befriedigenden Tempo. Der
Einbruch im Frühjahr konnte abge¬
riegelt, wenn auch noch nicht ganz
bereinigt werden. Unbesonnene Hand¬
lungen bringen immer nur Nachteile.
Die eigentliche Quelle der Er¬
regung und Erbitterung, die sich
breitmachende Wirtschaftsunmoral,
konnte allerdings noch nicht ver¬
stopft werden. Das ist aber eine
Angelegenheit nicht nur der Ge¬
werkschaft, sondern der ganzen
Öffentlichkeit. Wenn Ordnung und
Sauberkeit in der Wirtschaft herr¬
schen würden, wäre die Lage in
unserem Lande wesentlich leichter,
und es bliebe uns manche Erschüt¬
terung erspart.
Die Gewerkschaften sind dazu da,
für die Arbeiter und Angestellten
bessere Lebensbedingungen zu er¬
kämpfen. Auch in der gegenwärtigen
Situation drücken sie sich nicht vor
dieser Aufgabe, sondern sie gehen
den verläßlichsten und zweckmäßig¬
sten Weg. Und bei nüchterner Über¬
legung wird er auch die Billigung der
großen Mehrheit der österreichischen
Arbeiter ijnd Angestellten finden.
Es gtitii toufwCL
Bei der Österreich-Rundfahrt wenden
die Rennfahrer auf der GroElglockner-
strecke einen psychologisch äußerst
raffinierlen Trick an, wenn sie schon
hoch aufgestiegen sind, aber es noch be¬
deutender Kraitanslrengung bedarf, um
das Ziel, das Fuscher Törl, zu erreichen.
Sie schauen dann ins Tal hinunter und
sehen den gewaltigen Höhenunterschied,
den sie schon überwunden haben, und
das gibt ihnen Kraft und Ansporn, das
Ziel zu erreichen.
Ist es nicht mit unserem wichtig¬
sten wirtschaftspolitischen Nahziel
der Vollbeschäftigung ähnlich? Soll¬
ten wir nicht auch manchmal zurück¬
blicken auf die schreckliche Zeit vor
1938, als der Ständestaat die Arbeits¬
losenzahlen fälschen mußte, um die
Bevölkerung darüber zu täuschen,
daß die Zahl jener, die arbeiten
wollten, aber keine Beschäftigung
fanden, zwischen 500.000 und 600.000
schwankte, um daran zu ermessen,
welchen gewaltigen Aufstieg un¬
sere Wirtschaft genommen hat und
von welch überragender Bedeutung
die Einflußnahme der Arbeiterbe¬
wegung auf die Wirtschaftspolitik
war.
Aber auch ein Rückblick auf die
Entwicklung der letzten Monate und
Jahre ist ebenso lehrreich wie ermu¬
tigend. Bekanntlich konnte die öster¬
reichische Wirtschaft im Sommer 1951
den Stand der Vollbeschäftigung er¬
reichen, wobei allerdings eine immer
gefährlicher werdende inflationisti¬
sche Entwicklung in Kauf genommen
werden mußte und auch die Welt¬
wirtschaft eine noch nie dagewesene
Hochkonjunklur verzeichnete. 1952
und 1953 verschlechterte sich unter
dem Einfluß einer falschen Wirt¬
schaftspolitik und einer sich ver¬
schlechternden weltwirtschaftlichen
Lage die Arbeitsmarktsituation. Erst
im Herbst des vergangenen Jahres
konnte das Steuer herumgerissen
werden. Seit dem Tiefpunkt im Fe¬
bruar dieses Jahres ist eine wirk¬
liche Umkehr der Beschäftigungs-
Situation festzustellen.
Während im Jahre 1952 vom Hö¬
hepunkt der Arbeitslosigkeit bis
Ende Juni 96.000 Arbeitslose wie¬
der in den Arbeitsprozeß einge-
gliedert werden konnten, konnten
heuer von Ende Februar bis Ende
Juni nicht weniger als 184.611 Ar¬
beitslose wieder Beschäftigung fin¬
den. Wührend Ende Juni 1953 die
Zahl der Arbeitslosen 143.114 be¬
trug, konnle sie heuer Ende Juni
auf 120.555 herabgedrückt werden.
Damit haben wir das Niveau von
1952 fast erreicht, sind aber von den
günstigen Beschäftigungsverhältnis¬
sen des Jahres 1951 noch weit ent¬
fernt und müßten, um den damaligen
Zustand zu erreichen, die Arbeits¬
losenzahl um 41.000 senken.
Die Verbesserung der Beschäfti¬
gungssituation hat sich heuer, im Ge¬
gensatz zu 1952, im Juni kräftig fort¬
gesetzt und ist bei weitem nicht allein
auf die Abnahme der arbeitslosen
Bauarbeiter zuriickzuiühren. Im Juni
1952 sank die Zahl der Arbeitslosen
um 5543, davon waren 84l)/o Bauarbei¬
ter, im Juni 1953 sank die Zahl der
Arbeitslosen um 13.639, davon waren
45" ii Bauarbeiter, im heurigen Juni
sank die Zahl der Arbeitslosen um
21.936 und davon waren nur 30°/o
Bauarbeiter. Daraus geht hervor, daß
die Belebung der Wirtschaft nunmehr
auch andere Wirtschaftszweige er¬
greift und, ausgehend von der Bau¬
wirtschaft, den Lohnbewegungen in
verschiedenen Branchen, der Ver¬
stärkung der inneren Kaufkraft, dem
Fremdenverkehr und natürlich dem
anhaltenden hohen Export, sich die
allgemeine Wirtschaftslage verbes¬
sert.
Am eindrucksvollsten sind aber
die Beschäftigtenzahlen. Während
wir im Juni 1952 1,977.000 Beschäf-
tigle zählten, im Juni 1953 1,954.000,
konnte heuer bereits im Juni end¬
lich wieder die Zweimülionen¬
grenze überschritten werden. Es
wurde die Beschäftigtenzahl von
2,008.000 erreicht, und damit liegen
wir nur mehr um 11.000 Beschäf¬
tigte unter dem Stand des Juni 1951.
Um es nochmals festzuhalten, der
entscheidende Faktor bei der Verbes¬
serung der Beschäftigungssituation
war die Wiederherstellung des erfor¬
derlichen Ausmaßes der öffentlichen
Bautätigkeit, die wirklich in der Lage
ist, den Inlandsmarkt zu beleben, die
Inlandskonjunktur zu heben und da¬
mit die Vollbeschäftigung wiederzu¬
bringen. Der Außenhandel, so über¬
aus wichtig er auch für unsere Wirt¬
schaft ist, konnte, wie die letzten
zwei Jahre gezeigt haben, dieses Er¬
gebnis nicht bringen, was auch eine
Widerlegung der verlogenen Phrase
„Osthandel bringt Vollbeschäfti¬
gung" ist. Nicht der Osthandel
bringt sie, so nützlich er"auch sein
mag, sondern die Wohnbautätig¬
keit, ja die Bautätigkeit überhaupt.
Leider gibt es eine große Anzahl
von Kollegen, und vor allem sind das
jene, die sich in sicheren Berufs¬
positionen glauben, die, kaum daß'
diese Erfolge auf dem Beschäftigungs¬
sektor erzielt sind, auch schon jedes
Interesse an diesen wichtigen Fort¬
schritten verloren haben. Kaum ist
die Zahl der Arbeitslosen abgesun¬
ken, wird die Frage der Beschäfti¬
gungspolitik von der Tagesordnung
abgesetzt, alle Fortschritte werden
vergessen und alle gewaltigen Auf¬
gaben, die uns auf diesem Gebiet
noch gestellt sind, werden glatt über¬
sehen.
Denn es ist ja nicht so, daß die
Erfolge, die wir bisher errungen
haben, schon gesichert sind oder
gar die Erreichung des Zieles be¬
deuten und daher nur Anlaß für
Freuden- und Dankeskundgebun-
gen wären, sondern wirklich schwie¬
rige und große Probleme warten
hier noch auf uns.
Die Kollegen, die sich jetzt auf alle
möglichen anderen Fragen stürzen
und die Vollbeschäfligung aus den
Augen verlieren, erinnern an einen
verrückt gewordenen Specht, der an
alle dürren Zweige klopft, bis ihm der
Schädel brummt, aber niemals schaut,
ob sein Klopfen auch einen Wurm'
herausgelockt hat. Um bei diesem
Gleichnis zu bleiben: Der dürre A'st
„Arbeitslosigkeit“ birgt noch eine^l
Menge Würmer. Das schwierigste
Problem wird in den nächsten Jahren
die Unterbringung der Jugendlichen
sein. Die Massenkaufkraft muß noch
gehoben und richtig gelenkt werden,
um in den kommenden Jahren einen
größeren \ erbrauch von Textilien
und Schuhen zu ermöglichen. Damit
können die Textil-, Bekleidungs-und
Lederarbeiter ebenfalls wieder
Vollbeschäftigung zugeführt und die
Rationalisierungsarbeitslosigkeit in
dieser Branche aufgesaugt weiden.
Eine steigende Massenkauikraft kann
auch eine bessere Beschäftigungs¬
situation in der Nahrungs- und Ge¬
nußmittelindustrie und bei den kauf-
männischen Berufen herbeiführen
Dann darf nicht übersehen wer¬
den, daß die strukturelle Arbeits¬
losigkeit vor allem in der russD
sehen Zone ein gewaltiges und
schwer zu lösendes Problem ist, vor
allem, wenn man bedenkt, daß sich
die wirtschaftliche Situation der
USIA-Betriebe dauernd verschlech¬
tert.
Aber auch die gegenwärtige Be¬
schäftigungssituation hat keine ge¬
sicherten Grundlagen. Noch ist die
Bauwirtschaft ihres Saisoncharakters
nicht entkleidet worden. Wenn nioH
entscheidende Anstrengungen unter¬
nommen werden, müssen wir damit
rechnen, daß die Bautätigkeit im Win¬
ter wiederum tief absinken wird.
Wenn jetzt aber die Bauwirischaft
die wichtigste Knn ui1 li'sjuLzc dar-_
strengungen gemacht werden, um ihr
einen gleichmäßigen Hochstand zu
sichern und das Wintertief zu über-
brücken. Schließlich muß auch das
Preisniveau mit allen zur Verfügung
stehenden Mitteln in Ordnung gehal¬
ten werden, denn würden die Preise
steigen, und wären es auch nur die Preise
einiger weniger, aber dafür wichtige
Konsumgüter, bleibt für den ArbeTfpf^
haushait nicht genügend Kaufkraft,
um andere Waren, vor allem Textilien,
Schuhe, Haushaltgegenslände und Mö¬
bel zu kaufen.
Jedenfalls ist jetzt schon der Be¬
weis geglückt, daß durch eine ver¬
nünftige Wirtschaftspolitik der Re¬
gierung die österreichische Wirt¬
schaft der Vollbeschäftigung wie¬
der zugeiührt werden kann und
nicht in den Sumpf der Zwischen¬
kriegszeit zurückstnken muß.
Und dies ist eine Tatsache, die
nicht genug hoch eingeschäm
werden kann. Denn wir müs¬
sen die Vollbeschältigung erreichen
und aufrechterhallen: In erster Linie
aus sozialen Gründen, denn die er¬
zwungene Arbeitslosigkeit ist das
größte Unrecht, das der Arbeiter¬
klasse zugelügt werden kann;
Unser Lebensstandard
könnte höher sein
Die Arbeitslosigkeit war
1953 um 68.000 im Jahres¬
durchschnitt höher als 1951.
Durch eine aktive Konjunkturpolitik
könnten diese Arbeitslosen wieder
in den Wirtschaftsprozeß
eingegliedert werden.
Es könnte mehr produziert wercen.
dadurch wären die verfügbaren
Gütermengen größer.
Bei einer gerechten Verteilung dieser
größeren Gütermengen könnte ddr
Lebensstandard von uns allen höher sein.
Seite 2 Nr. 220 SOLIDARITÄT