ARBEIT
UND
WIRTSCHAFT
HERAUSGEGEBEN VON ANTON HUEBER UND FRANZ DOMES
REDAKTEURE: EDUARD STRAAS, VIKTOR STEIN, DR. EDMUND PALLA UND DR. J. HANNAK
I. JAHRGANG
LOHNPOLITIK
1. JUNI 1923
HEFT 11
DER GEWERKSCHAFTEN
Von Eduard Straas
Die Lohnpolitik in den Gewerkschaften weist seit tions- und Absatzverhältnisse und die Wiederherstel¬
geraumer Zeit in ihren Formen eine starke und stets lung der alten Herrschaftszustände in der Fabrik, wie
zunehmende Verschiedenheit auf. Die Gründe hiefür sie vor dem Krieg üblich waren. An dem einzig ver¬
sind leicht anzugeben; schwerer ist zu sagen, wie dem nünftigen Grundsatz, daß der Schaffende unter allen
abzuhelfen wäre, denn ohne Verständigung auf ge¬ Umständen ein Einkommen benötigt, mit dem er sein
wisse gemeinsame Richtlinien für die nächste Zeit Leben bestreiten kann, wird, wie immer, kühl vorbei¬
wird fernerhin nicht auszukommen sein. Diesbezüg¬ gegangen. Davon ist keine Rede. Auch hier sei darüber
liche Versuche sind bisher nur zaghaft unternommen nicht weiter gesprochen, obwohl auch in Österreich
worden. Sie mißlangen meist. Es erscheint mithin an¬ in der bürgerlichen Presse und in Unternehmerkreisen
gezeigt, einmal die entstandenen Formen aufzuzeigen
von unerfüllbaren Ratschlägen
viel, aber von
und die Entwicklung zu kennzeichnen, die bisher zu Notwendigkeiten für den anderen Teil nichts er¬
verzeichnen war. Nach einem Hinweis auf die be¬ wähnt wird. Von „drückenden sozialpolitischen
stehenden Zustände soll versucht werden, summarisch Lasten" wurde auf dem kürzlich abgehaltenen Han¬
anzugeben, was in der ferneren Zeit geschehen müßte. delskammertag gesprochen. An den menschenerfüllten
Es soll von vornherein zugegeben werden, daß die Weinstuben in den Vororten Wiens und ähnlichen
Lohnpolitik einer Gewerkschaft von den Zuständen Spaßen sei vorübergegangen. Auch mit den ewig
im Berufe im hohen Maße abhängig ist und auch mit gleichförmigen Anschauungen vom geistigen Niveau
der allgemeinen wirtschaftlichen Lage des Staates etwa der österreichischen Papierwarenerzeuger oder
im engen Zusammenhang steht. Dies bedarf keiner der Wiener Tischlervereinigung vermögen wir uns
Begründung. Kein Gewerkschafter, der über Löhne nicht auseinanderzusetzen. Gegenüber all dem vermag
verhandelt, kann sich diesen Tatsachen entziehen. Sie es nur eine Antwort zu geben: Nein und abermals nein!
bilden ernste, meist sogar unüberwindliche Hinder¬
Anders verhält es sich mit den Formen des Vor¬
nisse. Sie bedingen im bedeutenden Maße das taktische gehens, die wir selbst zu wählen haben, um begrün¬
Verhalten bei Lohnbewegungen. Hievori sei also nicht deten Einwänden der an der Wirtschaft profitierenden
.weiter gesprochen.
Faktoren entgegenzutreten. Von den Produktions¬
Es kann aber auch nicht Aufgabe dieser Zeilen sein, und Absatzverhältnissen ist die Erfüllung von Forde¬
etwa die Lohnpolitik der Unternehmer hier unter die rungen der "Arbeiterschaft sehr abhängig. Hier müssen
Lupe scharfer Kritik zu nehmen,
obwohl dies bestehende Zustände bedacht werden. Dies geschieht
wünschenswert wäre. Hängt doch auch hievon das auch. Allein es wird nicht immer auf den Anrainer
eigene Verhalten in hohem Grade ab. Die Absichten gebührende Rücksicht genommen. Die Kriegskünste
der Unternehmer sind in allen Fällen ausnahmslos der Gewerkschaften, die Taktik, also die Stellung und
darauf gerichtet, die Löhne und Gehälter zu drosseln Bewegung im Kampf mit dem Gegner erfordert, stets
und auf gerade passend erscheinende Verhältnisse im auch an den eigenen Nachbar zu denken. Dies
Ausland hinzuweisen, wo zufällig und vorübergehend wird aber leider immer häufiger übersehen, was ein¬
niedrigere Löhne entdeckt werden, diese rasch ange¬ mal deutlich ausgesprochen werden muß. Allerdings
führt, aber die entsprechenden sonstigen Lebens¬ berühren wir hier empfindliche und leicht verwund¬
bedingungen in diesem Lande verschwiegen werden. bare Stellen des Gewerkschaftskörpers. Wir können
Oder es werden Lohnerhöhungen von Mehrleistungen aber den Gegenstand aus leichtbegreiflichen Gründen
abhängig gemacht. Oder es werden Einschränkungen auch nicht mit der wünschenswerten Offenheit kritisch
der sozialpolitischen Einrichtungen verlangt. Eben behandeln. Immerhin aber ist es längst kein Geheim¬
diese Methode ist jetzt besonders im Gebrauch. Um nis mehr, daß schon bei den Anschauungen über das
dies durchzusetzen, fehlt es nicht an Versuchen, der Entlohnungssystem große Verschiedenheiten anzu¬
breiten Öffentlichkeit klarzumachen, wie naturnot¬ treffen sind. Die Lohnpolitik und die Taktik werden
wendig es sei, diesen einzig gangbaren Weg zu be¬ dementsprechend eingestellt. Bei Lohnverhandlungen
treten. Vor wenigen Tagen hat sich wieder neben gehen wir oft, zum Unterschied von sozialpolitischen
vielen anderen Dr. Meissinger im „Arbeitgeber", der Erörterungen, wo wir stets einheitlich auftreten,
Zeitschrift der deutschen Arbeitgeberverbände, be¬ nebeneinander statt miteinander. Wir traten oft dem
müht, die Form gesunder Lohnpolitik zu erörtern, die
gemeinsamen Gcrier gesondert gegenüber, was viel¬
hinausläuft auf die Besserung der schlechten Produk¬ leicht durch das Vorhandensein von 57 selbständigen