Full text: Arbeit & Wirtschaft - 1924 Heft 01 (01)

5 ARBEIT UND WIRTSCHAFT 6 tariat auch schon im bürgerlichen Staat erkämpft — und seien sie noch so provisorischer und vergäng¬ licher Natur — von dein Proletariat selbst im buch¬ stäblichen Sinne erarbeitet werden, indem der letzte Vertrauensmann teil hat an dem Werden des Staatswillens — und wiege sein Teilhaben auch nur so viel wie ein Sandkörnchen im Meer — lernt er zugleich in jedem konkreten Fall die Bedingtheit der Resultante dieses Staatswillens — bedingt durch die Scheidung der Klassen und durch die Klassengegen¬ sätze — kennen, erteilt ihm jede neue Aufgabe, an der er je nach seinem mehr oder weniger bescheidenen Wirkungskreis mitbeteiligt ist und bis zu einem ge¬ wissen Stück mjtberät und mitentscheidet, den An¬ schauungsunterricht von der Unvereinbarkeit des Klassenstaates mit frei schaffendem Menschentum. Indem sich in der „funktionellen Demokratie" der Brennpunkt der praktischen Tagespolitik einerseits und der Enthusjasmierung zum Kampf ums Endziel anderseits herauskristallisiert, indem sie den einzel¬ nen lehrt, korporativ zu denken und handeln und an dem Widerstand der Materie des Gegenwartsstaates den stärkeren Willen zum Zukunftsstaat zu formieren, leistet sie unserer Bewegung einen ungeheuren Dienst wie kein anderes Schlagwort, weil es ein Schlagwort ist, bei dem es nicht so sehr auf die Form als auf den Inhalt ankommt. Wir glauben, daß die englische Ar¬ beiterbewegung heute einen ähnlichen Weg einzu¬ schlagen beginnt, wenn sie auch von ganz anderen Ausgangspunkten herkommt: Auch die englische Ar¬ beiterbewegung beginnt durch die Mitarbeit ihrer gewerkschaftlichen und politischen Organisationen an der Bildung des Staatswillens — solche Mitarbeit kann wohlgemerkt auch die allerschärfste Opposition sein — dem Proletariat die revolutionäre Praxis zu verschaffen, welche es befähigen wird, die Schranken der Wirkungsmöglichkeit im bürgerlichen Staat am eigenen Leibe, an der eigenen Arbeit zu erkennen und diese Schranken dann desto sicherer zu überwinden. Nur so kann und konnte aus dem englischen Trade- Unionismus-Geist der Geist der revolutionären Ge¬ werkschaften werden. Nur durch die reichen Erfahrungen einer viel¬ fältigen Praxis wird der Geist der revolutionären Gewerkschaften Österreichs befähigt, eine Richtung einzuschlagen, die, ohne das Gewerkschaftsleben zu beeinträchtigen, zugleich darüber hinaus der großen Sache des Gesamtzieles, der großen Sache des Sozia¬ lismus dient. In diesem Geiste: das Steuerruder der Tagesarbeit fest in der Hand, die Insel der Seeligen, zu der wir unser Schiff hintreiben wollen, fest in Auge und Herz, in diesem Geiste soll auch unser Werk, soll unsere „Arbeit und Wirtschaft" im neuen Jahr mit demselben heißen Bemühen fortgeführt werden wie im ersten Jahr. Das Werk der freien Gewerkschaften ist mit dem Werk des Sozialismus identisch. KONIGE DER INFLATION Von Paul Ufermann (Berlin) Wer kennt nicht das Bild der Apokalyptischen Reiter, wie sie, Hungersnot, Krieg und Pestilenz mit sich führend, durch die Fluren rasen und alle Länderstriclie vernichten, die der verderbenbringende Hauch ihrer Rosse berührt. Ein Künstler der Jetztzeit, der dieses Bild zu malen hätte, würde, den einen Reiter, die Pest, durch einen ebenso furchtbaren, die Inflation, ersetzen. Seit der Entstehung des Kapitalismus hat die Inflation, wor¬ unter wir die rasende Geldentwertung der kriegführenden Länder, vor allem Deutschlands und Österreichs verstehen, die größte Umwälzung in der ökonomischen Struktur der menschlichen Gesellschaft herbeigeführt. Sie hat ganze Völkerschichten untergehen lassen, hat den Rentner, der geruhsam und gemächlich sein Vermögen verzehrte oder von Zinsen lebte, ausgerottet. Sie hat d'en Lebensstandard der Arbeiterklasse, trotz ununterbrochener Lohnerhöhung, fast unter das Niveau eines chinesischen Kulis hinab- gedriickt, sie hat die Bevölkerung in den betreffenden Län¬ dern, soweit sie nicht zu den Sachwertbesitzern gehörte, mit einer Steuer belegt, die so-furchtbar wirkte, daß man die Geduld bewundern mußte, mit der sie getragen wurde. Keine Regierung, und sei sie noch so reaktionär, hätte eine Besteue¬ rung solch unsozialer Art zu fordern gewagt, die der Staat der Bevölkerung aufbürdete, indem er Falschgeld in Ge¬ stalt ungedruckter Noten druckte und in riesigen Mengen in den Verkehr brachte. Und währenddessen die Sorge und das Elend dieses papierenen Segens immer größere Kreise der Bevölkerung heimsuchte, stiegen einige zu Macht und Reichtum empor. Das waren die Nutznießer der Inflation, die deren Geheimnis schon zu einer Zeit begriffen, als andere noch in dem alten Wahn lebten, daß Geld Geld und Im Werte gleichbleibend sei. Sie spekulierten ä la baisse, machten Schulden und tauschten Papierlappen gegen Sach¬ werte um. In geometrischer Progression wuchsen so König¬ reiche der Inflation als Wahrzeichen einer neuen Zeit neben den Pyramiden der aufgeschichteten Inflationshekatomben empor. Alte Dynastien, wie die der Hohenzollern und der Habsburger, wurden vom Baum der Weltgeschichte als reif und morsch herabgeschüttelt, neue, wirtschaftlich weit mächtigere Geldsackgnaden traten an ihre Stelle. Einige Exemplare dieser Gattung seien in diesen Spalten in natura vorgeführt. I. Hugo Stinnes. Einer unter den bekanntesten von ihnen ist Hugo Stinnes. Er entstammt einer alten Industriefamilie des rheinisch-westfälischen Kohlenbergbaues und wurde von einer Landsmännin Poincares, einer Lothringerin, am 22. Februar 1872 geboren. In seinem Gehaben, seiner Energie und Erfolgen ähnelt er seinem Großvater Matthias Stinnes. der im Jahre 1810 durch den Erwerb eines Kohlen- hoks in Mülheim a. d. Ruhr den Grundstein zur Firma legte. Der alte Matthias Stinnes als auch der Enkel Hugo waren berufen, an der Schwelle einer neuen Zeit zu wirken, denn damals wie heute zogen französische Heereskörper durch das Gebiet der rheinisch-westfälischen Großindustrie, da¬ mals wie heute wurde zwischen zwei Volksstämmen um dieses reiche Gebiet gekämpft. Vielleicht sucht heute der kleine Poincare das Werk zu vollenden, das dem großen Korsen vor 110 Jahren nicht gelang. Die Geschichte des Hauses Stinnes ist reich an inter¬ essanten Einzelheiten. Es wuchs mit der mächtigen deut¬ schen Eisen- und Stahlindustrie in die Höhe und Breite. Und als in den Jahrzehnten nach dem Deutsch-Französi- schen Kriege die Schwerindustrie Deutschlands sich an¬ schickte, ein Machtfaktor zu werden, aus dem der deutsche Imperialismus seine Kraft zog, da stand das Haus Stinnes nicht an letzter Stelle. Erst 23jä'hrig, machte sich Hugo Stinnes selbständig durch Gründung der Firma Hugo Stinnes G. m. b. H. in Mülheim a. d. Ruhr. An der Schwelle des neuen Jahr¬ hunderts war er schon ein Großindustrieller von Rang und Ruf. In diese Zeit fällt seine erste Griinderperiode, die in der Errichtung des Rheinisch-Westfälischen Elektrizitäts¬ werkes und der Deutsch-Luxemburgischen Bergwerks- und Hiitten-A.-G. ihre Krönung fand. In ersterer stellte er ein Riesenwerk zur Versorgung des Industriegebiets mit elek¬ trischer Energie auf die Füße, deren Leitungsdrähte heute ein riesiges Netz von Städten, Dörfern und Industrie¬ anlagen umspannen, das von Hannover bis Trier und von der holländischen Grenze bis Kassel reicht. In der letzteren kam in großzügiger Weise die Verbindung zwischen dem westfälischen Kohlenbergbau und dein lothringisch-luxem¬ burgischen Minettegebiet zustande. Jene Arbeitsteilung, die so mächtig in der Aufwärtsentwicklung der deutschen Großindustrie wirkte und um deren Wiedervereinigung,

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