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tariat auch schon im bürgerlichen Staat erkämpft —
und seien sie noch so provisorischer und vergäng¬
licher Natur — von dein Proletariat selbst im buch¬
stäblichen Sinne erarbeitet werden, indem der
letzte Vertrauensmann teil hat an dem Werden des
Staatswillens — und wiege sein Teilhaben auch nur
so viel wie ein Sandkörnchen im Meer — lernt er
zugleich in jedem konkreten Fall die Bedingtheit der
Resultante dieses Staatswillens — bedingt durch die
Scheidung der Klassen und durch die Klassengegen¬
sätze — kennen, erteilt ihm jede neue Aufgabe, an der
er je nach seinem mehr oder weniger bescheidenen
Wirkungskreis mitbeteiligt ist und bis zu einem ge¬
wissen Stück mjtberät und mitentscheidet, den An¬
schauungsunterricht von der Unvereinbarkeit des
Klassenstaates mit frei schaffendem Menschentum.
Indem sich in der „funktionellen Demokratie" der
Brennpunkt der praktischen Tagespolitik einerseits
und der Enthusjasmierung zum Kampf ums Endziel
anderseits herauskristallisiert, indem sie den einzel¬
nen lehrt, korporativ zu denken und handeln und an
dem Widerstand der Materie des Gegenwartsstaates
den stärkeren Willen zum Zukunftsstaat zu formieren,
leistet sie unserer Bewegung einen ungeheuren Dienst
wie kein anderes Schlagwort, weil es ein Schlagwort
ist, bei dem es nicht so sehr auf die Form als auf den
Inhalt ankommt. Wir glauben, daß die englische Ar¬
beiterbewegung heute einen ähnlichen Weg einzu¬
schlagen beginnt, wenn sie auch von ganz anderen
Ausgangspunkten herkommt: Auch die englische Ar¬
beiterbewegung beginnt durch die Mitarbeit ihrer
gewerkschaftlichen und politischen Organisationen
an der Bildung des Staatswillens — solche Mitarbeit
kann wohlgemerkt auch die allerschärfste Opposition
sein — dem Proletariat die revolutionäre Praxis zu
verschaffen, welche es befähigen wird, die Schranken
der Wirkungsmöglichkeit im bürgerlichen Staat am
eigenen Leibe, an der eigenen Arbeit zu erkennen und
diese Schranken dann desto sicherer zu überwinden.
Nur so kann und konnte aus dem englischen Trade-
Unionismus-Geist der Geist der revolutionären Ge¬
werkschaften werden.
Nur durch die reichen Erfahrungen einer viel¬
fältigen Praxis wird der Geist der revolutionären
Gewerkschaften Österreichs befähigt, eine Richtung
einzuschlagen, die, ohne das Gewerkschaftsleben zu
beeinträchtigen, zugleich darüber hinaus der großen
Sache des Gesamtzieles, der großen Sache des Sozia¬
lismus dient. In diesem Geiste: das Steuerruder der
Tagesarbeit fest in der Hand, die Insel der Seeligen,
zu der wir unser Schiff hintreiben wollen, fest in Auge
und Herz, in diesem Geiste soll auch unser Werk,
soll unsere „Arbeit und Wirtschaft" im neuen Jahr mit
demselben heißen Bemühen fortgeführt werden wie
im ersten Jahr. Das Werk der freien Gewerkschaften
ist mit dem Werk des Sozialismus identisch.
KONIGE DER INFLATION
Von Paul Ufermann (Berlin)
Wer kennt nicht das Bild der Apokalyptischen Reiter,
wie sie, Hungersnot, Krieg und Pestilenz mit sich führend,
durch die Fluren rasen und alle Länderstriclie vernichten,
die der verderbenbringende Hauch ihrer Rosse berührt.
Ein Künstler der Jetztzeit, der dieses Bild zu malen hätte,
würde, den einen Reiter, die Pest, durch einen ebenso
furchtbaren, die Inflation, ersetzen.
Seit der Entstehung des Kapitalismus hat die Inflation, wor¬
unter wir die rasende Geldentwertung der kriegführenden
Länder, vor allem Deutschlands und Österreichs verstehen,
die größte Umwälzung in der ökonomischen Struktur der
menschlichen Gesellschaft herbeigeführt. Sie hat ganze
Völkerschichten untergehen lassen, hat den Rentner, der
geruhsam und gemächlich sein Vermögen verzehrte oder
von Zinsen lebte, ausgerottet. Sie hat d'en Lebensstandard
der Arbeiterklasse, trotz ununterbrochener Lohnerhöhung,
fast unter das Niveau eines chinesischen Kulis hinab-
gedriickt, sie hat die Bevölkerung in den betreffenden Län¬
dern, soweit sie nicht zu den Sachwertbesitzern gehörte,
mit einer Steuer belegt, die so-furchtbar wirkte, daß man die
Geduld bewundern mußte, mit der sie getragen wurde. Keine
Regierung, und sei sie noch so reaktionär, hätte eine Besteue¬
rung solch unsozialer Art zu fordern gewagt, die der Staat
der Bevölkerung aufbürdete, indem er Falschgeld in Ge¬
stalt ungedruckter Noten druckte und in riesigen Mengen in
den Verkehr brachte. Und währenddessen die Sorge und
das Elend dieses papierenen Segens immer größere Kreise
der Bevölkerung heimsuchte, stiegen einige zu Macht und
Reichtum empor. Das waren die Nutznießer der Inflation,
die deren Geheimnis schon zu einer Zeit begriffen, als
andere noch in dem alten Wahn lebten, daß Geld Geld und
Im Werte gleichbleibend sei. Sie spekulierten ä la baisse,
machten Schulden und tauschten Papierlappen gegen Sach¬
werte um. In geometrischer Progression wuchsen so König¬
reiche der Inflation als Wahrzeichen einer neuen Zeit neben
den Pyramiden der aufgeschichteten Inflationshekatomben
empor. Alte Dynastien, wie die der Hohenzollern und der
Habsburger, wurden vom Baum der Weltgeschichte als
reif und morsch herabgeschüttelt, neue, wirtschaftlich weit
mächtigere Geldsackgnaden traten an ihre Stelle. Einige
Exemplare dieser Gattung seien in diesen Spalten in natura
vorgeführt.
I.
Hugo Stinnes.
Einer unter den bekanntesten von ihnen ist Hugo
Stinnes. Er entstammt einer alten Industriefamilie des
rheinisch-westfälischen Kohlenbergbaues und wurde von
einer Landsmännin Poincares, einer Lothringerin, am
22. Februar 1872 geboren. In seinem Gehaben, seiner Energie
und Erfolgen ähnelt er seinem Großvater Matthias
Stinnes. der im Jahre 1810 durch den Erwerb eines Kohlen-
hoks in Mülheim a. d. Ruhr den Grundstein zur Firma legte.
Der alte Matthias Stinnes als auch der Enkel Hugo waren
berufen, an der Schwelle einer neuen Zeit zu wirken, denn
damals wie heute zogen französische Heereskörper durch
das Gebiet der rheinisch-westfälischen Großindustrie, da¬
mals wie heute wurde zwischen zwei Volksstämmen um
dieses reiche Gebiet gekämpft. Vielleicht sucht heute der
kleine Poincare das Werk zu vollenden, das dem großen
Korsen vor 110 Jahren nicht gelang.
Die Geschichte des Hauses Stinnes ist reich an inter¬
essanten Einzelheiten. Es wuchs mit der mächtigen deut¬
schen Eisen- und Stahlindustrie in die Höhe und Breite.
Und als in den Jahrzehnten nach dem Deutsch-Französi-
schen Kriege die Schwerindustrie Deutschlands sich an¬
schickte, ein Machtfaktor zu werden, aus dem der deutsche
Imperialismus seine Kraft zog, da stand das Haus Stinnes
nicht an letzter Stelle.
Erst 23jä'hrig, machte sich Hugo Stinnes selbständig
durch Gründung der Firma Hugo Stinnes G. m. b. H.
in Mülheim a. d. Ruhr. An der Schwelle des neuen Jahr¬
hunderts war er schon ein Großindustrieller von Rang und
Ruf. In diese Zeit fällt seine erste Griinderperiode, die in
der Errichtung des Rheinisch-Westfälischen Elektrizitäts¬
werkes und der Deutsch-Luxemburgischen Bergwerks- und
Hiitten-A.-G. ihre Krönung fand. In ersterer stellte er ein
Riesenwerk zur Versorgung des Industriegebiets mit elek¬
trischer Energie auf die Füße, deren Leitungsdrähte heute
ein riesiges Netz von Städten, Dörfern und Industrie¬
anlagen umspannen, das von Hannover bis Trier und von
der holländischen Grenze bis Kassel reicht. In der letzteren
kam in großzügiger Weise die Verbindung zwischen dem
westfälischen Kohlenbergbau und dein lothringisch-luxem¬
burgischen Minettegebiet zustande. Jene Arbeitsteilung, die
so mächtig in der Aufwärtsentwicklung der deutschen
Großindustrie wirkte und um deren Wiedervereinigung,