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die Unsicherheit ihrer Existenz und über die Notwen¬
digkeit, die Fesseln zu sprengen, so verstand ihn
jedermann, erweckten seine Worte ein Echo in allen
Herzen. Er brachte den Arbeitern das Klassen¬
bewußtsein bei. Wird Marx unbestreitbar bleiben,
die Arbeiterbewegung aus dem Schlummer geweckt
zu haben, so muß es Lassalle anerkannt werden, der
große Prediger gewesen zu sein, die deutschen Ar¬
beiter zum Ideal aufgerufen zu haben. Er konnte
durch die Macht seiner Person, durch seine be¬
weisenden Schriften dem Arbeiter die soziale Lage
erklären und den Drang kultureller Befreiung in ihm
erzeugen. Er rief die Massenbewegung ins Leben.
Das ist Lassalles Verdienst.
Der große Agitator, die starke Persönlichkeit, der
Schöpfer einer Kulturbewegung des Proletariats, das
war Lassalle. Aber noch eines muß gesagt werden.
Fr hat vor allem den Gedanken der harmonischen
Vereinigung von wissenschaftlicher und körperlicher
Arbeit als notwendig bezeichnet. Die Arbeiter und
die Wissenschaft sind der Fels, auf dem die Kirche
der Gegenwart erbaut wird, lautet ein von ihm ge¬
prägtes, in aller Mund gesprochenes Wort. Der Ar¬
beiterstand wird die Menschenrechte zur Wahrheit
machen, dies war seine Überzeugung. Der Arbeiter
Freiheit ist die Freiheit aller Menschen, dies ist der
immer wiederkehrende Gedanke in seinen Reden und
Schriften. Seine Geschichtsphilosophie stellt den Ar¬
beiter und die Arbeit in den Vordergrund. Die Ver¬
einigung der Wissenschaft und der Arbeit, dieser bei¬
den entgegengesetzten Pole der Gesellschaft, die bei
ihrer Umarmung alle Kulturhindernisse in ihren eher¬
nen Armen erdrücken werden - das ist das Ziel, das
er seinem Leben zu setzen beschlossen hatte. Die Ar¬
beiterfrage erschien ihm als die größte Kulturfrage.
Jetzt, wo wir versuchen, in die Wirtschaft mitbe¬
stimmend einzudringen, folgen wir immer mehr und
mehr seinen Fußtapfen. Hat Lassalle politisch die Er¬
oberung des Wahlrechtes gefordert, so suchte er
wirtschaftlich nach Befreiung, durch Ergreifen der
Wirtschaft. Hier aber beginnen seine Fehlschlüsse,
die zu verschweigen wir, die wir nicht Weihrauch
streuen wollen, keine Ursache haben.
In den Produktivgenossenschaften mit Staats¬
hilfe sah Lassalle das Mittel, ans Ziel zu gelangen.
Diesen Institutionen stellte er Sozialrevolutionäre Auf¬
gaben. Von ihnen erwartete er mehr, als sie zu geben
in der Lage gewesen wären. Es war nie daran zu
denken, die Kräfte des Klassenstaates in die Dienste
solcher Körperschaften, schon gar nicht des Sozia¬
lismus zu stellen. In dieser Hinsicht überschätzte
Lassalle den Wert des Wahlrechtes. Die Entwicklung
der Bewegung ist daher hier andere Wege gegangen.
Aber aus dem Grund wird erklärlich, wenn er den
damals noch im Keime steckenden Gewerkschaften
keine günstige Zukunft stellte, sehr im Gegensatz zu
Marx, sie sogar geringschätzte. Seine Äußerungen
dieser Art sind bekannt. Es hat dank dieser Anschau¬
ungen langer Jahre bedurft, bis sich die Gewerk¬
schaften in ihrem Wert bei den Arbeitern durchzu¬
setzen vermochten Immer wieder wurde auf
Lassalle und seine Worte, selbst auf das eherne
Lohngesetz hingewiesen, demgegenüber gewerk¬
schaftliche Bestrebungen ohnmächtig wären. Aber
diese Zeit ist heute längst vorüber, ebenso wie nie¬
mand mehr an die Produktivgenossenschaften mit
Staatskrediten und Staatsmitteln denkt. Das Werk
der Befreiung der Arbeiterklasse wird in anderer
Weise aufgebaut
Lassalles Bedeutung liegt auf anderem Gebiet. Hier
war er der schöpferische, der außerordentliche
Mensch. Wir sprachen davon. Darum bleibt er deut¬
schen Arbeitern der Große und Gewaltige, der tiefe
Denker und sozialistische Kämpfer. Mag er nun in
zweifacher Art in unserer Vorstellung belebt werden,
beide entstellt, es wird seinem Gedenken keinen Ab¬
bruch tun. Man wird ihn uns nicht in seinem Wirken
verzerrt darstellen können, wenn man ihn als den
radikalen, unbedachten Himmelsstürmer erscheiaen
läßt, der den Boden der Wirklichkeit verliert, welche
Erscheinung man heute leider mitunter wahrnehmen
kann. Solch krampfhaftem Bemühen, Revolution unter
allen Umständen zu machen, um nur schnell ans Ziel
zu kommen, setzte er ein Wort entgegen, das, weil
zeitgemäß, wiederholt sei und lautet:
„Man kann zuletzt Revolutionen nur mit den Massen
und ihrer leidenschaftlichen Hingebung machen. Die
Massen aber, eben wegen ihrer sogenannten »Roheit«,
wegen ihres Mangels an Bildung, haben keinen Sinn für
Vermittlungen, interessieren sich nur — denn jeder rohe
Verstand ist extrem, kennt nur ein Ja und ein Nein und
keine Mitte zwischen beiden — für das Extreme, Ganze,
Unmittelbare. Es muH also zuletzt kommen, daß solche
Revolutionsrechner, statt die getäuschten Feinde nicht vor
sich und die Freunde hinter sich zu haben, zuletzt umge¬
kehrt die Feinde vor sich und die Anhänger ihres Prinzips
nicht hinter sich haben. Der scheinbar höchste Verstand
hat sich so in der Tat als höchster Unverstand erwiesen."
In seinen politischen Aufsätzen heißt es einmal:
„Im allgemeinen ist der Mensch ein Produkt seiner Lage,
und wer ganze Klassen von Menschen wirklich ändern
will, muß zuvor die Bedingungen ihrer Lage ändern, die
sie eben zu dem machen, was sie sind."
Das mögen sich jene merken, die es ganz be¬
sonders angeht. Den anderen aber, die den Ruhm des
großen Führers verkleinern wollen, indem sie seine
Theorien als falsch erklären, sei zugerufen: Blickt
doch in die Wirklichkeit! Und über das Gerede jener,
die immer nur die menschlichen Schwächen der Eitel¬
keit und des Ehrgeizes, die ihm anhafteten, hervor¬
heben, denen das Verhältnis Lassalles zur Gräfin
Hatzfeld interessant erscheint, vermag man mit der
Uberzeugung ruhig hinwegzugehen, daß die Größe
des Charakters Lassalles uns nicht verdunkelt wer¬
den kann. Wir sind stolz auf Lassalle den Sozialisten
und halten ihn und seine Lehren immerdar in Ehren.
Wir feiern ihn. indem wir seine Schriften immer
wieder lesen, neire Belehrung aus ihnen gewinnend.
Es soll keinen Gewerkschafter geben, der Lassalles
Werke noch nicht kennt!
•c-t
NACHKLANGE ZUM VERBANDSTAG DER
ÖSTERREICHISCHEN METALLARBEITER
Von Johann Schorsch
Es ist eine alte Erfahrung, daß die Unternehmerorga-
nisationen jede objektive, die reinen Tatsachen feststellende
Rede eines hervorragenden Gewerkschafters oder eines
Sozialdemokraten daraufhin untersuchen, Anhaltspunkte zu
finden, um die ihnen angeschlossenen Unternehmer gegen die
Arbeiter und Angestellten der Betriebe scharf zu machen.
Der Verbandstag der österreichischen Metallarbeiter gab
ihnen wieder Gelegenheit, die dort gehaltenen Reden zu
studieren und das herauszulesen, was sie fiir ihre Zwecke
brauchen. Das Organ des Hauptverbandes der österreichi¬
schen Industrie, „Die Industrie", vom 2. August 1924 widmet
den Reden nicht weniger als fast neun Spalten, um nach
Zitierung von Redewendungen, die aus dem Zusammenhang
herausgerissen sind, die, wie sie sagen, „kurzsichtigen"
Unternehmer aufzutordern, lieber einen Schaden durch
Streiks oder passive Resistenz auf sich zu nehmen, als einer