2 infobrief eu & international Ausgabe 2 | Mai 2015
wien.arbeiterkammer.at
und die Bankenhilfe auf über 61,366
Mrd. Euro.3
Unter dem Druck der Austeritätspo-
litik wurden öffentliche Ausgaben im
Sozial-, Gesundheits- und Bildungs-
bereich reduziert. Spanien wurde in
seiner Entwicklung um eine Dekade
zurückgeworfen.4 Während des Bau-
booms waren die Immobilienpreise
um mehr als 200 % gestiegen, eine
Regulierung der Banken und eine No-
vellierung des Hypothekengesetzes
blieben aus. Im Zuge der Krise konn-
ten viele SpanierInnen ihre Woh-
nungskredite nicht zurückzahlen und
Delogierungen stiegen an. Aufgrund
des Preisverfalls von Immobilien und
der spezifischen Rechtslage Spaniens
waren die Delogierten auch danach
nicht schuldenfrei. Zwischen 2007
und 2014 gab es 570.000 Zwangs-
vollstreckungen.5 Pro Tag gibt es ca.
500 Delogierungen. Gleichzeitig ste-
hen fast 20 % der Wohnungen leer.
Verschärft wurde die Wohnungskri-
se dadurch, dass es kaum sozialen
Wohnraum oder rechtliche Sicherheit
für MieterInnen gibt.
Die Lebensbedingungen haben sich
enorm verschlechtert. So lag im
März 2015 die Arbeitslosigkeit bei
26,38 %6 und die Jugendarbeitslosig-
keit war mit 53,5 %7 die höchste in
Europa, was viele von einer verlore-
nen Generation sprechen lässt. Seit
2012 sind über eine Million meist
gut ausgebildeter Jugendlicher ins
Ausland gegangen. Jene die bleiben,
können sich aufgrund der prekären
Arbeitsbedingungen oft keine eigene
Existenz aufbauen.
37 % der Arbeitslosen haben den
Anspruch auf Unterstützung verlo-
ren.8 Es verschärfen sich regionale
Disparitäten sowie die Einkommens-
ungleichheit. 2012 lebten 22,2 %
der Wohnbevölkerung unter der Ar-
mutsgrenze. Mehr als ein Drittel aller
Kinder ist armutsgefährdet und vom
Risiko sozialer Exklusion betroffen.9
Circa zwei Millionen Kinder leiden an
Hunger.10 Dies und die hohe Korrup-
tion führten zu einer massiven Ver-
trauenskrise in das politische Sys-
tem.
Die Protestbewegung n Die De-
monstration gegen die Folgen der Fi-
nanzkrise in Madrid am 15. Mai 2011
gilt als Geburtsstunde der spani-
schen Protestbewegung, die als „Mo-
vimento 15M“ bezeichnet wird. In
wochenlangen Platzbesetzungen der
„Indignados“ (der Empörten) wurde
die Austeritätspolitik, der politische
Einfluss der Banken und die Alter-
nativlosigkeit der neoliberalen Politik
kritisiert.11 Zentral war die Wut auf
eine korrupte politische und wirt-
schaftliche Elite, die sog. „Kaste“. Die
Bewegung will sich keiner politischen
Richtung oder Ideologie zuordnen,
sie präsentiert sich als heterogen
und inklusiv, vertritt aber Werte, die
eher als „links“ gelten, wie Umvertei-
lung, einen starken Sozialstaat oder
Regulierungen des Finanzsystems.
Zunahme von Politisierung und
Engagement n Seit 2011 stieg die
Zahl der Protestaktivitäten stark
an.12 In der Zivilgesellschaft „brodelt
es“, es ist eine „explosive Situation“.
Viele Menschen wurden durch die
Platzbesetzungen und die aus ihnen
hervorgehende Bewegung politisiert,
einige sind erstmals politisch aktiv,
andere erstmals wieder seit dem Wi-
derstand gegen Franco. „Es hat mich
selbst und auch meine ganze Familie
politisiert“, erzählt ein Mitarbeiter der
Organisation „Democracia Real Ya“
(Echte Demokratie Jetzt), die Mitin-
itiator der ersten Proteste war. Auch
die Intensität des Engagements ist
z.T. sehr hoch, manche AktivistInnen
sind fast täglich in Versammlungen
aktiv. Wie viele Menschen tatsächlich
aktiv sind, ist schwer messbar, an-
gesichts der herrschenden Probleme
sei es immer noch weitaus zu wenig,
Spanien – Überleben in der Krise
Delogierungen:
Das Gesicht der Krise.
finden viele, zudem ist die Bewegung
zwar altersmäßig sehr heterogen, sie
spricht aber doch eher gut Ausgebil-
dete, oft Arbeitslose an.
Es gibt viele Formen des politisch-
zivilgesellschaftlichen Engagements.
Die „Mareas“ (auf Deutsch: Flut) z.B.
können als eine Art themenorien-
tierte „Bewegung in der Bewegung“
verstanden werden: die „Marea Azul“
spricht sich gegen die Privatisierung
des Wassers aus, die „Marea Gra-
nate“ verbindet die wegen der Krise
ausgewanderten Jugendlichen, die
„Marea Amarilla“ setzt sich für mehr
Budget im Kulturbereich ein und die
„Marea Verde“ engagiert sich gegen
Sparmaßnahmen im Bildungssys-
tem.
Besonders hohe Legitimität genie-
ßen auch die landesweit vernetzten
Organisationen gegen Zwangsräu-
mungen, die bei Delogierungen pro-
testieren, mit Banken verhandeln
und gesetzliche Änderungen fordern.
Ihnen gelang es bis zum Jahr 2014,
mehr als 1150 Zwangsräumungen
zu verhindern, und für die Unter-
bringung von 1180 Betroffenen zu
sorgen.13 Häufig werden dafür leer-
stehende – meist davor zwangsge-
räumte - Wohnungen gesucht, das
Schloss aufgebrochen, und so den
durch die Delogierung obdachlos
gewordenen Personen zumindest
übergangsweise eine Unterkunft ver-
schafft. Auch ganze Häuser werden
besetzt, so der Wohnraum leer steht
und im Besitz von Banken ist. In der
„corrala utopia“, dem bekanntes-
ten Projekt, lebten bis zur Zwangs-
räumung 2014 fast zwei Jahre lang
106 Personen, darunter 40 Kinder,
viele mit alleinerziehenden Müttern.
Während Besetzungen lange als
politischer Extremismus abgelehnt
wurden, sehen viele Menschen sie
nun als legitim an, da sie nicht »
»
Circa zwei Millionen
Kinder leiden an Hunger.