Die Utopie denken!
E
s mag frivol erscheinen, angesichts
von hoher Arbeitslosigkeit vor allem
bei Jugendlichen, steigender Preka-
risierung, Sparzwang und damit ver-
bundenen Einschnitten ins Sozialsystem
oder gar angesichts von Kriegen und da-
durch ausgelösten Flüchtlingsbewegungen
über das „gute Leben“ zu philosophieren.
Man mag sich auch fragen, wie gerade die
Gewerkschaft auf eine solche Idee kom-
men kann, wo viele Menschen hierzulan-
de darum kämpfen, ein halbwegs würde-
volles Leben zu führen, weshalb das Stich-
wort „gutes Leben“ für sie wie eine Utopie
erscheinen mag, deren Erfüllung anderen
vorbehalten ist.
An der Wurzel packen
Die Gewerkschaftsbewegung hat sich in
der Geschichte aber nicht nur dafür ver-
antwortlich gefühlt, sich für die Verbesse-
rung der konkreten Situation der Men-
schen einzusetzen. Immer schon war es
auch das Ziel, die Probleme an der Wurzel
zu packen und nicht nur Symptome, son-
dern auch deren Ursachen zu bekämpfen.
Dazu gehört auch, sich Gedanken über
Alternativen zu machen.
Die Symptome sind vielfältig: Es ist
sowohl das für viele schlechte Leben in
der Arbeit, das für viele schlechte Leben
zu Hause (hohe Lebenshaltungskosten
bei geringen Löhnen und Einkommen)
oder das für viele schlechte Leben in der
Sonja Fercher
Chefin vom Dienst
Standpunkt
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Gesellschaft (Schulsystem, ungerechte
Aufteilung von Haus- und Erwerbsarbeit,
Diskriminierungen am Arbeitsplatz ...).
Vorstellungen vom guten Leben wie-
derum gibt es viele, eine davon ist etwa,
sich etwas leisten zu können. Wer all das
haben will, muss sich anstrengen, lautet
das Mantra. Umgekehrt lautet eine ver-
breitete Meinung: Wer sich etwas nicht
leisten kann, leistet auch nicht genug.
Aber nicht alle, die heute viel leisten, wer-
den dafür auch entsprechend bezahlt.
Umgekehrt haben nicht alle, die viel ha-
ben, dafür auch viel geleistet. Schon gar
nicht leisten alle, die viel haben, den glei-
chen Beitrag zur Finanzierung des öster-
reichischen Staatshaushalts und damit zu
einer gerechten Verteilung des gesell-
schaftlich erwirtschafteten Wohlstands –
Stichwort Vermögenssteuern, die weiter-
hin auf sich warten lassen.
Aber ist das vielbeschworene Wirt-
schaftswachstum wirklich der einzige
Maßstab für ein gutes Leben für alle
oder gar Voraussetzung dafür? Schon seit
vielen Jahren beschäftigen sich Forsche-
rInnen, PolitikerInnen und AktivistIn-
nen mit den „Grenzen des Wachstums“,
denn es ist schon lange absehbar, dass die
Bodenschätze zur Neige gehen werden.
Und doch basiert die Weltwirtschaft wei-
terhin weitgehend auf der Ausbeutung
dieser Ressourcen.
Ein gutes Leben kann viele andere
Dimensionen haben, die über materiellen
Wohlstand hinausgehen. Eine Dimensi-
on ist etwa die Zeit, über die Menschen
frei verfügen können. Es kann bedeuten,
entspannt Zeit mit der Familie oder
FreundInnen zu verbringen, mit einem
guten Buch oder schöner Musik, in Aus-
stellungen, im Kino, Theater oder in der
Natur. Es kann gutes Essen oder erholsa-
me Urlaube an schönen Orten bedeuten.
Oder es kann bedeuten, dass man mitbe-
stimmen kann, wann, wo und wie lange
man arbeitet.
Verteilungsproblem
Heute können nur manche Menschen frei
darüber entscheiden, welche dieser Mög-
lichkeiten sie in Anspruch nehmen wollen
– oder vielleicht auch nicht. Hinter dieser
Ungleichheit steckt vor allem ein Vertei-
lungsproblem. Dagegen wiederum wen-
den manche ein: Man könne nicht allen
die gleichen Konsummöglichkeiten geben,
Stichwort zur Neige gehende Rohstoffe.
Doch wer sagt denn eigentlich, dass Men-
schen der Sinn nur nach Konsum steht,
wenn sie mehr Zeit und Geld haben? Eins
ist klar: Die Gesellschaft wird über all das
reden müssen, wenn sie nicht auf dem Rü-
cken anderer – ob in Gegenwart oder Zu-
kunft – weiterwirtschaften möchte. Ich
hoffe, dass wir mit dem Heft dafür einen
kleinen Anstoß geben können, und wün-
sche gute Lektüre sowie einen guten
Rutsch ins neue Jahr.