Im Erinnern nach vorne blicken
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in ehrendes Angedenken allen Op-
fern und Toten der Gewerkschafts-
bewegung 1934–1948“: Diese be-
wegenden Worte sind dem Bericht
des ÖGB-Zentralsekretariats aus dem
Jahr 1948 vorangestellt. Sie laden zum
Innehalten ein, zum Erinnern an jene
Verbrechen, die noch kurz zuvor auf ös-
terreichischem Boden begangen worden
waren, zum Gedenken an jene Menschen,
die diesen Verbrechen zum Opfer gefal-
len waren, sowie an jene, die im Kampf
für die Freiheit ihr eigenes Leben gegeben
haben. Wir widmen uns der Zeit nach
1945, dennoch möchte ich an dieser Stel-
le auch jene Menschen würdigen, die in
dieser Zeit keine Rolle mehr im ÖGB
gespielt haben oder spielen konnten. Ih-
rem Engagement – ob vor 1934 oder im
Widerstand – ist es schließlich zu verdan-
ken, dass die Gründer des ÖGB an die
lange Geschichte der Gewerkschaftsbe-
wegung wieder anknüpfen konnten.
Gedenken an jüdische Opfer
Die Gewerkschaften haben viele Persön-
lichkeiten verloren. Nicht alle sind heute
noch namentlich bekannt, viele von ih-
nen waren es auch damals nicht, weil sie
in ihren Betrieben oder im Alltag Wider-
stand leisteten. Ihnen ist es zu verdanken,
dass das NS-Regime auch im Inneren
immer wieder herausgefordert wurde und
letztlich zusammenbrach. Vor allem aber
Sonja Fercher
Chefin vom Dienst
Standpunkt
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sei hier an die Jüdinnen und Juden erin-
nert, die sich in der Gewerkschaft enga-
gierten. Stellvertretend für die jüdischen
Opfer der Gewerkschaftsbewegung sei an
Viktor Stein gedacht. Er war einst Redak-
teur der Arbeit&Wirtschaft, Angestellter
der Metallarbeitergewerkschaft sowie der
Arbeiterkammer und später Abgeordne-
ter des Nationalrats. Im Jahr 1938 wurde
er verhaftet und wegen Hochverrats an-
geklagt, er wurde zwar – nach fünzehn-
monatiger Haft – im Dezember 1939
freigesprochen, beim Verlassen des Ge-
richts jedoch von der Gestapo verhaftet.
Stein wurde zunächst ins KZ Buchenwald
und dann nach Sachsenhausen ver-
schleppt, wo er nach offiziellen Angaben
„verstorben“ ist.
Manchen gelang die Flucht, einige
kehrten nicht mehr nach Österreich zu-
rück. Anders Otto Leichter, der 1946
nach Wien zurückkam. Er arbeitete bei
der AK und schrieb ebenfalls für die
A&W. Nach parteiinternen Querelen
übersiedelte Leichter allerdings im Jahr
1948 wieder zurück nach New York.
Keine Frage, im Jahr 1945 standen
Gewerkschaften vor völlig anderen Her-
ausforderungen als heute. Dennoch
kann ein Blick in die Geschichte sehr
aufschlussreich sein. Oft genug stellt
man dabei nämlich fest, dass sich viele
der heutigen Probleme gar nicht so sehr
von jenen aus der Vergangenheit unter-
scheiden, auch wenn sie sich heute na-
türlich in modernerem Gewand zeigen.
So kann man sich aus der Historie so
manchen Input für die Zukunft holen.
Selbstkritik und Blick in die Zukunft
Nicht nur in die Vergangenheit zu bli-
cken, sondern auch über Herausforderun-
gen von Gegenwart und Zukunft nach-
zudenken: Das haben wir und für diese
Ausgabe vorgenommen. Schließlich ist
ein Jubiläum immer verführerisch. Man
kann Abstand nehmen von der Tagespo-
litik und sich über errungene Erfolge freu-
en. Gerne schiebt man dabei Misserfolge
weg, immerhin will auch ein Geburtstag
einer Institution gefeiert werden.
Das hat auch seinen guten Grund,
denn wir alle brauchen solche Momen-
te, um uns zu vergegenwärtigen, wo wir
in der Tat etwas vorangebracht haben.
Genau daraus schöpfen wir immer wie-
der die Kraft, um im Alltagsgeschäft
auch die schwierigeren Herausforderun-
gen motiviert anzugehen. Der selbstkri-
tische Blick darf dabei aber nicht fehlen,
denn dieser hilft dabei, sich der noch
offenen Baustellen zu besinnen und sich
ihnen vielleicht sogar mit einem etwas
anderen Blick erneut zu nähern. Ent-
standen ist ein sehr abwechslungsreiches
Heft, das hoffentlich Ihnen ebenso viel
Freude beim Lesen bereiten wird wie
uns beim Schreiben – und hoffentlich
auch Stoff zum Nachdenken bietet.