Arbeit&Wirtschaft 2/201612 Schwerpunkt
D
ie Zumutbarkeitsregeln der Ar-
beitslosenversicherung stehen
wieder im Zentrum der politi-
schen Diskussionen. Mit mehr
Druck sollen Arbeitslose zu rascher An-
nahme von Arbeit, egal welcher, gezwun-
gen werden: Das ist die Absicht der einen.
Sie als Hebel zu Zwangsarbeit zu demas-
kieren die der anderen. Über diesen Dis-
kussionen geht eine zentrale Frage unter:
Genügen diese Regeln eigentlich den ak-
tuellen und absehbaren Herausforderun-
gen auf dem Arbeitsmarkt? Diese lauten:
anhaltender Mangel an Arbeitsplätzen
insgesamt, steigende Anforderungen an
Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der
Beschäftigten, ihre beruflichen Qualifi-
kationen und Leistungskraft sowie immer
stärkere Instabilität und Prekarität von
Beschäftigung.
Dafür lohnt es sich, zwei grundle-
gende Fragen miteinander zu verbinden:
Erstens, was sind eigentlich die Kern-
funktionen von Zumutbarkeitsregeln
der Arbeitslosenversicherung? Zweitens,
genügen diese Regeln für einen Arbeits-
markt, auf dem letztlich Leistungsfähig-
keit, Flexibilität und Qualifikation im
Wettbewerb um zu wenige Arbeitsplätze
entscheiden?
Schutz und Disziplinierung
Die Zumutbarkeitsregeln bestimmen In-
halt und Grenzen für eine jener Voraus-
setzungen, die man erfüllen muss, wenn
man Arbeitslosengeld und Notstandshil-
fe beziehen will: die sogenannte Arbeits-
willigkeit. Sie entfalten eine doppelte
Wirkung: Sie legen sowohl das Maximum
an Einkommensverzicht fest als auch die
Arbeitsqualität, die Arbeitssuchende bei
einer neuen Beschäftigung akzeptieren
müssen. Sie wirken somit als Schutz vor
zu niedrigen Löhnen und gegen widrige
Arbeitsbedingungen. Mit den kollektiv-
vertraglichen Mindestlöhnen legen sie
den Mindestpreis für Arbeit auf einem
Arbeitsmarkt fest und sind damit wich-
tig, um Armut zu vermeiden.
Strukturwandel unterstützen
Zumutbarkeitsregeln beeinflussen maß-
geblich, in welchem Unternehmen bzw.
auf welchem Arbeitsplatz die Produkti-
vität der arbeitslos gewordenen Arbeit-
nehmerInnen wieder genutzt wird – da-
mit hemmen sie im schlechtesten Fall den
wirtschaftlichen Strukturwandel oder
unterstützen ihn.
Sie sind weiters ein wichtiger Hebel
der in Österreich spätestens seit dem
EU-Beitritt verfolgten „aktivierenden“
Arbeitsmarktpolitik: Arbeitslose sind
angehalten, an Maßnahmen zur Wie-
dereingliederung in den Arbeitsmarkt
teilzunehmen und auch Beschäftigungs-
verhältnisse auf dem sogenannten zwei-
ten Arbeitsmarkt zu akzeptieren. Sie
verlangen von Arbeitssuchenden somit
mehr, als sich nur vermitteln zu lassen.
Zugleich ist damit ihre disziplinierende
Wirkung auf Arbeitssuchende mindes-
tens so wichtig geworden wie die
Schutzwirkung.
Alle Prognosen und alle Szenarien
der wirtschaftlichen Entwicklung in Ös-
terreich legen eines nahe: Die Qualifika-
tion der Beschäftigten, ihre Leistungsfä-
higkeit und ihre Bereitschaft zur Anpas-
sung an Veränderungen in der Arbeits-
welt sind der entscheidende Faktor für
Erfolg im globalen Wettbewerb, beim
Einsatz neuer Technologien, neuer Ge-
schäftsmodelle und neuer Formen der
Arbeitsteilung. Auch wenn es nicht die
alleinige Aufgabe der Arbeitsmarktpoli-
tik ist: Sie macht nur Sinn, wenn sie
auch auf die Erhöhung des sogenannten
Humankapitals und die Sicherung der
Leistungs- und Anpassungsfähigkeit
von Personen im Erwerbsalter ausge-
richtet ist.
Diese Zielsetzungen müssen durch
die Regeln der Arbeitslosenversicherung
unterstützt werden, und zwar unter an-
derem durch Zumutbarkeitsbestim-
mungen, die eine Verschlechterung der
beruflichen Laufbahn von Arbeitneh-
merInnen durch Arbeitslosigkeit verhin-
dern und gleichzeitig gestatten, dass Ar-
beitnehmerInnen die Arbeitslosigkeit
für einen bestmöglichen Neustart auf
dem Arbeitsmarkt nutzen können.
Moderne Kernziele
Damit rückt der Einkommens- und Be-
rufsschutz in die Aufmerksamkeit. Die
geltenden Zumutbarkeitsbestimmungen
bei Arbeitslosigkeit schützen die Quali-
fikation für 100 Tage, das erreichte Ein-
kommen für 120 Tage.
Dieses Schutzniveau ist unzurei-
chend, denn in viel zu vielen Fällen be-
deutet Arbeitslosigkeit einen lang nach-
wirkenden Knick beim Einkommen
und bei der beruflichen Entwicklung.
Zumutbar in die Zukunft
Die Diskussion über die Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln geht am Kern
vorbei. Vielmehr müssen sie zukunftsfähig gemacht werden.
Gernot Mitter
Abteilung Arbeitsmarkt und Integration
der AK Wien