40 Arbeit&Wirtschaft 3/2019 41Arbeit&Wirtschaft 3/2019
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ie Digitalisierung der Arbeitswelt
ist in vollem Gange und somit
auch die Mitbestimmung im Be-
trieb. Doch sie ist keine Naturge-
walt. Wie sich die Arbeitsbeziehungen
und -abläufe im Zuge dieses Prozesses
verändern werden, hängt maßgeblich da-
von ab, wie und mit welchen Zielsetzun-
gen digitale Technologien genutzt wer-
den, in welchem gesellschaftlichen Kon-
text sie sich entfalten und wie die Inter-
essen der Beschäftigten dabei einbezogen
werden.
Fragen über Fragen
In dem Zusammenhang stellt sich eine
Vielzahl an Fragen: Wie können die Mög-
lichkeiten des zeit- und ortsflexiblen Ar-
beitens auch den ArbeitnehmerInnen ei-
nen echten Mehrwert bringen? Welche
Daten werden erhoben und wie werden
sie verwendet? Welche Anforderungen
ergeben sich für die Aus- und Weiterbil-
dung? Wie können wir sicherstellen, dass
es nicht zu einer Enthumanisierung der
Arbeit und einer Zunahme von prekärer
Arbeit kommt? Wie kann der Struktur-
wandel sozial gestaltet werden?
Dies sind nur einige der Schauplätze,
wo unterschiedliche Interessen austariert
und faire Spielregeln ausgehandelt wer-
den müssen. Die Hans-Böckler-Stiftung
hat sich gemeinsam mit dem Institut für
prospektive Analysen im Rahmen des
Projekts „Mitbestimmung 2035“ mit
diesem Themenfeld beschäftigt.
Man liest und hört in diesen Tagen
immer wieder, dass wir in einer Welt le-
ben, die von Volatilität, Unsicherheit,
Komplexität und Ambivalenz gekenn-
zeichnet ist. Eine zentrale Herausforde-
rung unserer Zeit ist also, dass wir Ent-
scheidungen mit Blick auf die Zukunft
unter höchst unsicheren Rahmenbedin-
gungen treffen müssen.
Aus heutiger Sicht sind viele wichti-
ge Fragen noch offen und unterschiedli-
che Pfade vorstellbar, wie Digitalisie-
rung unsere Arbeits- und Lebenswelt
verändern wird. Um dennoch konstruk-
tiv darüber diskutieren zu können, leg-
ten wir dem Projekt das Konzept der
Szenarien zugrunde. Diese können uns
unterstützen, Orientierung zu finden.
Szenarien handeln von Veränderun-
gen, die sich aus heutiger Sicht schwer
abschätzen lassen. Sie stellen unter-
schiedliche, aber in sich gleichermaßen
plausible Zukunftsverläufe dar. Statt
eine eindeutige Antwort auf die Frage
nach der Zukunft zu geben wie bei einer
Prognose, werden zentrale Unsicherhei-
ten mit Blick auf die Zukunft identifi-
ziert: Welche Faktoren werden einen
maßgeblichen Einfluss haben, sind aber
aus heutiger Sicht in ihrer künftigen
Ausprägung hochgradig ungewiss? Wel-
che kausalen Zusammenhänge könnten
die eine oder die andere Entwicklung
vorantreiben? Was wären dann die je-
weiligen Auswirkungen?
Mithilfe von Szenarien können wir
den Blick für längerfristige Chancen
und Risiken weiten und so auch die In-
tegrität unseres Handelns stärken. Gute
Szenarien sind plausibel, aber zugleich
auch neuartig und herausfordernd. Sie
eröffnen uns neue Perspektiven. Bei
„Mitbestimmung 2035“ wurden vier
unterschiedliche, aber gleichermaßen
plausible Zukunftsszenarien der Digita-
lisierung der Arbeitswelt entwickelt. Sie
zeigen verschiedene Chancen und Her-
ausforderungen auf, die in der Zukunft
für Akteure der Mitbestimmung eine
mehr oder weniger große Rolle spielen
könnten. Die Szenarien bieten einen
Orientierungsrahmen, um aktuelle Ent-
wicklungen sowie bestehende Hand-
lungsstrategien zu bewerten und neue
Gestaltungsspielräume für eine wirksa-
me Mitbestimmung zu erschließen.
Peak Performance
Im ersten Szenario wird die Digitalisie-
rung vorangetrieben, um Produktivität
und Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen.
Leistungsdruck und die permanente Op-
timierung der eigenen Performance prä-
gen den Arbeitsalltag. Chancen und Ri-
siken liegen hier oft dicht beieinander,
die persönliche Verhandlungsmacht ori-
entiert sich am Marktwert und die Pola-
risierung der Beschäftigungsverhältnisse
nimmt weiter zu. In immer mehr Berei-
chen kommt es zum Wettbewerb zwi-
schen Mensch und Maschine.
Persönliche Entfaltung
Im zweiten Szenario trägt die Digitalisie-
rung zu mehr individuellen Gestaltungs-
spielräumen, Flexibilität und Vielfalt in
der Arbeitswelt bei. Staatliche Standards
sichern die Teilhabe sowie eine ausgewo-
gene Verteilung der Früchte der Digita-
lisierung und verhindern Machtmiss-
brauch. Die Arbeitgeber-Reputation ist
angesichts des begrenzten Arbeitskräfte-
angebots ein wichtiger Erfolgsfaktor für
Unternehmen.
Zusammenhalt
Im dritten Szenario vollzieht sich die Di-
gitalisierung eingebettet in kollektiven
Aushandlungsprozessen und demokrati-
schen Unternehmensstrukturen. Verein-
barungen zwischen den Sozialpartnern
tragen so maßgeblich dazu bei, dass der
technologische Wandel und effiziente
Produktionsweisen mit Beschäftigungs-
sicherheit, guten Arbeitsbedingungen
und individuellen Präferenzen Hand in
Hand gehen.
Reset
Im vierten Szenario führen Digitalisie-
rung und Automatisierung nicht nur zu
einem drastischen Verlust an Arbeitsplät-
zen, sondern auch zur Ausbreitung pre-
kärer, inhumaner Arbeitsbedingungen.
Das erzeugt massiven Widerstand und
Konflikte, aus denen schließlich neue An-
sätze von kollektivem Handeln und So-
lidarität sowie alternative Wirtschafts-
konzepte hervorgehen.
Die vier Szenarien verdeutlichen in
ihrer Gesamtzusammenschau, in wel-
chem Maße die Zukunft der Digitalisie-
rung der Arbeitswelt offen ist und was
auf dem Spiel steht. Damit möchten wir
dazu beitragen, der Digitalisierung eine
Richtung zu geben. Unser Anspruch
muss sein: Nicht abzuwarten, was pas-
sieren wird, sondern die Zukunft selbst
aktiv mitzugestalten, indem wir unsere
Anliegen in einen längerfristigen und
größeren Bezug stellen, zugleich aber zu
fragen: Was können wir heute tun, da-
mit es in eine gute Richtung geht?
Anregungen und Materialien:
www.mitbestimmung.de/mb2035
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autoren
michael-stollt@boeckler.de
meinert@ipa.netzwerk.de
oder an die Redaktion
aw@oegb.at
Mit Szenarien in die Zukunft
Das Projekt „Mitbestimmung 2035“ stellt für die Diskussion über die Zukunft
von Arbeit und Mitbestimmung interessante Grundlagen zur Verfügung.
Michael Stollt
Hans-Böckler-Stiftung
Sascha Meinert
Institut für prospektive Analysen (IPA)