autonom. Bereits in den siebziger Jah
ren bestanden einige Großunterneh
men mit mehreren tausend Beschäf
tigten. Die Standorte konzentrierten
sich stark in den Städten.
In den beiden letzten Jahrzehnten
des Kaiserreichs erfolgte in der Ma
schinenindustrie nochmals eine Be
schleunigung des Wachstumstempos:
1882 zählte die Branche 4.887 Betriebe
mit 94.900 Beschäftigten, 1907 schon
6.083 Betriebe mit 270.300 Beschäftig
ten. Die Ursachen dieser Dynamik la
gen in der Hinwendung zur Massen
produktion in einigen Bereichen, in
der Spezialisierung einzelner Produk
tionszweige sowie in der Zusammen
arbeit zwischen Wissenschaft und
Technik. Der Exportanteil stieg stän
dig, bereits 1909 wurde fast das dies
bezügliche Niveau Großbritanniens
erreicht. Die Vielfalt der Produkte ver
hinderte ähnliche Konzentrationsten
denzen wie in der Eisen- und Stahlin
dustrie.
Zwischen 1880 und 1913 erfolgte ein
merklicher Anstieg des durchschnitt
lichen Lebensstandards der unselb
ständig Beschäftigten. Der Reallohn
anstieg betrug in diesem Zeitraum
durchschnittlich 1,4 Prozent p. a. Die
Verteilung dieser Wohlstandsverbes
serung auf einzelne Gruppen ist aber
nach wie vor kontrovers. Daten zur
personellen Einkommensverteilung
in Preußen zeigen eine Zunahme der
Ungleichheit in den achtziger und
neunzig er Jahren, danach kaum noch
Veränderungen. Erstere war vor allem
eine Folge überproportionaler Ein
kommenszuwächse der reichen Kapi
talbesitzer. Die Kluft zwischen Ober
und Mittelschicht vergrößerte sich al
so. Das starke Wachstum der Kapital
einkommen ist auf die Kapitalknapp
heit infolge der raschen Urbanisie
rung zurückzuführen. Die Mobilisie
rung der Arbeitnehmer und die Prote
ste der Arbeiterbewegung beruhten
mithin nicht auf einer absoluten Ver
armung derselben, sondern auf einer
relativen, insbesondere in Relation zur
Oberschicht.
Im Zusammenhang mit dem akuten
Arbeitskräftemangel in der ostelbi
schen Landwirtschaft, der in den acht
ziger Jahren aus der massenhaften
Abwanderung von Kleinbauern und
Landarbeitern in die Städte resultier
te, spricht Tilly auch ein gegenwärtig
in Österreich hochaktuelles Thema an,
nämlich die Mobilisierung billiger, un
qualifizierter Saisonarbeitskräfte aus
dem Ausland, in diesem Fall aus Rus
sisch-Polen und Galizien. Erwünscht
war eine mobile Einsatzreserve wäh
rend der Erntezeiten, absolut uner
wünscht war eine Einwanderung die
ser Arbeitskräfte. Restriktive behörd
liche Regulierungen setzten dies
durch (Legitimationszwang, Rück
kehrzwang): Die Ausländer waren an
bestimmte Arbeitsplätze gebunden
und hatten in der winterlichen "Ka
renzzeit" in ihr Herkunftsland zurück
zukehren. Die Analogie zu dem von
mancher Seite gewünschten "Saison
nier-Status" ist nicht zu übersehen . . .
Der Anhang enthält einige Doku
mente zur deutschen Wirtschaftsge
schichte des 19 . Jahrhunderts und er
läutert den aktuellen Forschungs
stand sowie wichtige Literaturbeiträ
ge. Zahlreiche tabellarische Übersich
ten und Abbildungen bieten statisti
sche Materialien zu den im Textteil
diskutierten Themen.
Tilly ist es eindrucksvoll gelungen,
auf relativ engem Raum das zeitlich
ungleichgewichtige Wirtschafts
wachstum Deutschlands von 1834 bis
19 14 als Ergebnis von langfristig wir
kenden Faktoren wie Bevölkerungs
wachstum, Kapitalbildung und tech
nisch-organisatorischem Fortschritt
sowie den Interessen von Individuen
und sozialen Gruppen darzustellen.
Ein Hinweis zum Schluß: Die Lektüre
des vorliegenden Bandes kann mit
großem Gewinn mit jener von Hubert
Kiesewetters Buch "Industrielle Re
volution in Deutschland" (Edition
Suhrkamp) kombiniert werden, da die
Inhalte zu einem wesentlichen Teil
komplementär sind.
Michael Mesch
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