24. Jahrgang ( 1 998), Heft 4
Ausblendung zentraler I nhalte in das
neoklassische Analyseschema ge
zwängt wurde. Besonders problema
tisch für die weitere Rezeption der Key
nesschen Theorie ist aber, daß nicht
auf die zentrale, von Keynes als funda
mental erachtete Unterscheidung in
Kurz- und Langfristperspektive einge
gangen wird. Dieses Manko wiegt um
so schwerer, als hiermit die heute vor
herrschende Fehlinterpretation weiter
gefestigt wird, Keynesianische Wirt
schaftspolitik erschöpfe sich in einer
antizyklischen Fiskalpolitik, die auf der
Voraussetzung periodisch wiederkeh
render kräftiger Aufschwungbewegun
gen aufbaue, so daß mit deren Ende
quasi automatisch auch das Ende des
Keynesianismus gekommen sei. Key
nes hatte jedoch die Tendenz zu abneh
menden Wachstumsraten vorausgese
hen und für diese Phase ausdrücklich
eine wirtschaftspolitische Wende gefor
dert. Auf lange Sicht, so Keynes, müs
se eine antizyklische Fiskalpolitik durch
verstärkte Bemühungen um Arbeits
zeitverkürzung, Korrektur der Einkom
mensverteilung und eine erhöhte öf
fentl iche I nvestitionsquote sukzessive
abgelöst werden.
Die abschließenden Ausführungen
gelten dem "Neoliberalismus" und der
"Evolutorischen Wirtschaftstheorie" .
Entgegen der Tatsache, daß "neolibe
ral" heute als Synonym für eine Gei
steshaltung steht, die in freien Markt
wirtschaften ein sich selbst optimieren
des Wirtschaftssystem sieht, stellt Kalb
klar, daß mit dem Begriff "Neo- bzw.
Ordoliberal ismus" jene wirtschaftstheo
retische Orientierung beschrieben ist,
die die Notwendigkeit von Rahmenbe
dingungen, I ntervention und Regulie
rung als Grundlage der "Sozialen
Marktwirtschaft" betont. Die anschlie
ßenden Bemerkungen zur evolutori
schen Ökonomik kreisen um die Figur
J .A. Schumpeters und dessen Theorie
der evolutiven wirtschaftl ichen Ent
wicklung. Angesichts der vorherrschen-
Wirtschaft und Gesellschaft
den Schumpeter-lnterpretation, die, bei
gleichzeitiger Mißachtung der Gesamt
zusammenhänge, vor allem auf die
Person des von Schumpeter in den Mit
telpunkt gestellten (dynamischen) Un
ternehmers rekurriert, hebt sich wohltu
end hervor, daß die Konsequenz der
Schumpeterschen Sichtweise zumin
dest erwähnt wird, nämlich, daß er den
Kapitalismus, übrigens im Gegensatz
zum Sozialismus, für grundsätzlich
nicht überlebensfähig h ielt. Einige Zei
len zu den "Essentials einer evolutionä
ren Ökonomik" , die auf die Bedeutung
beschränkter Rational ität, offener Sy
steme, ungleichgewichtig verlaufender
dynamischer Prozesse hinweisen, be
schließen den Band. Auf eine zusam
menfassende Würdigung und Einord
nung der Bedeutung und Wirkmächtig
keit der einzelnen vorgestellten Theori
en wurde leider verzichtet.
Die besondere Stärke der von Ger
hard Kalb vorgelegten Dogmenge
schichte besteht zweifelsfrei darin , daß
sie es der Leserin bzw. dem Leser er
laubt, sich mit relativ geringem Auf
wand einen umfassenden Überblick
über d ie vielfältigen ökonomischen An
sätze bis in die unmittelbare Gegenwart
hinein zu verschaffen. Leider läßt der
Autor sie bzw. ihn mit der Vielfalt weit
gehend allein, so daß die Gefahr be
steht, daß am Ende nur der Eindruck
einer unübersehbaren Fülle verschie
denster Theorien übrig bleibt. Als Weg
weiser hätten sich etwa Unterscheidun
gen zwischen jenen Ansätzen angebo
ten , die von der endogenen Stabil ität
marktwirtschaftl icher Systeme ausge
hen, und solchen , die von der Notwen
digkeit zur I ntervention überzeugt sind.
Vor diesem Hintergrund hätten dog
mengeschichtliche Entwicklungslinien
deutlich gemacht werden können, die
die engen Beziehungen und Fortent
wicklungen einzelner Theorien und
n icht nur ein vermeintlich zusammen
hangloses zeitliches H inter- oder Ne
beneinander dargeboten hätten . Das
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