Wirtschaft und Gesellschaft
keinen "take off' in der englischen ln
dustriegeschichte gab, sondern eine
höchst dynamische Entwicklung vor
dem Einsetzen industrieller Massen
fertigungen. Im Zeitraum 1 600-1 800
kam es zu einer Verdoppelung des
Outputs pro Kopf in England. Das war
für eine traditionelle Ökonomie eine
sehr hohe Wachstumsrate. Dennoch
stieg das reale Pro-Kopf-Einkommen
erst gegen Ende des 1 8. Jahrhunderts
in England über den Wert der Nieder
lande. Die Conclusio, die Wrigley aus
diesem Befund zieht, sollte jedem neo
l iberalen Wachstumsfetischisten ins
Stammbuch geschrieben werden: Ka
pitalismus garantiert kein langfristiges
Wachstum. Obwohl in den Niederlan
den die erste kapitalistische Ökonomie
entstand, konnte sich keine Versteti
gung des Wachstums in einer Phase
der Ressourcenverknappung einstel
len: Die Niederlande fielen zurück.
Wrigley geht jedoch noch einen
Schritt weiter: Die engl ischen Bedin
gungen für Urbanisierung und land
wirtschaftl iche Prosperität waren auch
in anderen Teilen Europas prinzipiell
gegeben. Dass England letztlich eine
Vorreiterrolle im Industrialisierungsver
lauf einnahm, erklärt sich aus einem
bereits in der vorindustriellen Wirtschaft
erworbenen Wachstumsvorsprung und
einer günstigen Ressourcenausstat
tung. Damit l iefert Wrigley freilich auch
- ohne es in diesem Band eigens aus
zuführen - Begründungen für den Ver
lust der einmal erworbenen Position im
späten 1 9. Jahrhundert. ln jener Pha
se der I ndustrialisierung, in der die in
dustriellen Leitsektoren nicht mehr in
einem derartig hohem Ausmaß auf fos
sile Energieträger zurückgreifen muss
ten wie in der ersten Phase der lndust-
472
30. Jahrgang (2004), Heft 3
ria l isierung und auch im Bereich von
Landwirtschaft und Urbanisierung kon
tinentale Ökonomien nachzogen, be
stand für Großbritannien kein wesent
licher Wettbewerbsvorteil mehr.
Die gesammelten Beiträge Wrigleys
liefern interessante Einblicke in die Ge
schichte der " Industriellen Revolution"
vor der Revolution. Viele Thesen Wrig
leys sind nicht wirklich neu, aber es ge
l ingt ihm, sie in eine konsistente Dar
ste l lung zusammenzufügen. Kritik
punkte gibt es wenige. Ledigl ich die
Wiederholung vieler Argumente, die
sich aus dem Charakter einer Aufsatz
sammlung ergibt, führt bei der Lektüre
zu häufigen Redundanzen. Die Tatsa
che, dass ein ige Aufsätze bereits vor
rund zwei Jahrzehnten erschienen
sind, wirkt sich vereinzelt nachteilig aus.
So hält die Behauptung des Autors, in
England hätten im Vergleich zum Kon
tinent höhere Migrationsraten bestan
den, neueren Ergebnissen der Migra
tionsgeschichte nicht unbedingt Stand.
Bedauerlich ist es, dass der Autor am
Abschluss des Bandes keine die Zeit
nach 1 850 in den Blick nehmende Bi
lanz zieht. Diese Einwände ändern
nichts an der Gesamteinschätzung: ln
Summe ist Wrigley ein äußerst lesens
wertes Buch gelungen!
Andreas Weigl
Anmerkung
1 Zusammenfassend etwa in: Industrielle
Revolution (=Beiträge zur historischen So
zialkunde 3 (1 997)); Teich, Mikulas, Por
ter, Roy (Hrsg.), The lndustrial Revolution
in National Gontext Europe and the USA
(Cambridge 1 996).