32. Jahrgang (2006), Heft 4 Wirtschaft und Gesellschaft
bauern und Gutsverwalter. Diese Mittelsmänner (gabel/oti), die den Boden von
Tagelöhnern bestellen ließen oder ihn an Kleinbauern weiterverpachteten, waren
wegen der kurzen Laufzeiten bestrebt, ihre Landarbeiter und Pächter rasch aus
zupressen.
Der moderne Staat, der an die Stelle des Feudalsystems getreten war, hät
te eigentlich ein Monopol auf Gewalt durchsetzen müssen. Doch sowohl das
bourbonische Königreich Neapel als auch ab 1 861 das Königreich Italien waren
schwache Staaten und verabsäumten dies. Der Staat war in Sizilien nicht ver
trauenswürdig, weil er die Gewalt nicht kontroll ierte und weil er immer wieder
repressiv, willkürlich, ja h interhältig agierte. Gewalt wurde in Sizi l ien zu einem un
entbehrlichen Hi lfsmittel der Unternehmertätigkeit, war für Investitionen ebenso
wichtig wie Kapital. Unternehmer bewaffneten sich entweder selbst oder bedien
ten sich der Dienste der Gewaltindustrie, der Mafia. (Diese Bezeichnung tauchte
erstmals in den 1 860er Jahren auf.)
Die kapitalistischen Pächter setzten Mafiosi zur Eintreibung von Pachtzinsen,
zur Einschüchterung ihrer Arbeitskräfte und zur Vernichtung der Ernte ihrer Kon
kurrenten ein , oder dazu , die Latifundisten zu günstigen Pachtbedingungen zu
zwingen. Viele gabel/oti gehörten selbst der Mafia an, weil ihnen die Mitglied
schaft nützte: Sie verschaffte nicht nur mil itärische Macht, sondern auch privile
gierten Zugang zu Verwaltung und Justiz, was in Zeiten der Auflösung des Feu
dalsystems und der Versteigerungen von staatl ichen und kirchlichen Gütern sehr
wichtig war.
Die Mafia entstand in einer Region , in der sich der Reichtum Siziliens konzent
rierte und die noch heute ihr Kerngebiet ist: in Palermo und der umgebenden
Conca d'Oro ("Goldenes Becken"), wo im Zuge des lang anhaltenden Zitrus
früchte-Booms in der Mitte des 1 9. Jahrhunderts moderne kapitalistische Agrar
betriebe entstanden, die auf Anbau und Export von Zitronen spezialisiert waren.
Die westsizi lianischen Zitronenplantagen waren um 1 860 die profitabelsten land
wirtschaftlichen Flächen Europas. "Die Mafia wurde nicht aus Armut und Isolati
on geboren, sondern aus Macht und Reichtum." (S. 54)
Zitrusplantagen erforderten hohe Anfangsinvestitionen und regelmäßige Be
wässerung, die erste Ernte erfolgte erst nach acht Jahren, und die empfindlichen
Früchte hatten eine lange Reise zu den Konsumentinnen vor sich. Diese Bran
chencharakteristika, die für ein hohes Gefährdungspotenzial sorgten, boten in
Kombination mit den hohen Profiten hervorragende Voraussetzungen für die
Schutzgelderpressung durch die Mafia. Diese hob nicht nur üppige ,Steuern'
ein , sondern wurde selbst auch in der Branche unternehmerisch tätig. Andere
wichtige Geschäftsfelder in der Anfangszeit der Mafia bildeten der organisierte
Rinderdiebstahl und die ,Besteuerung' des Schwefelbergbaus.
Die Mafia-Organisationen verbanden die Eigenschaften eines Staates im Staa
te mit denen eines illegalen Unternehmens und einer Geheimorganisation . Jede
Mafia-Familie übte mit dem Einverständnis der regionalen Gesamtorganisation
eine Schattenherrschaft über die Bewohner ihres Gebiets aus, ,besteuerte' le
gale und i l legale Aktivitäten und maßte sich die Herrschaft über Leben und Tod
an. Die Mafia unterwanderte den legalen Staat und machte ihn für ihre eigenen
Zwecke nutzbar. Die Schutzgeldeinnahmen flossen in die Aufrechterhaltung der
kriminellen Schlagkraft, d. h. in die Bestechung von Anwälten, Richtern, Pali-
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