Full text: Wirtschaft und Gesellschaft - 2010 Heft 1 (1)

36. Jahrgang (2010), Heft 1 Wirtschaft und Gesellschaft 137 des Einflusses einer aristokratischen Führungsschicht und die Schwäche der liberalen Gegengewichte. Der „integrale Nationalismus“, der um die Jahrhundertwende entstand, bereitete den deutschen „Ideen von 1914“ und dem italienischen Faschis- mus den Boden. Der extreme deutsche Kriegsnati- onalismus fand seinen bekanntesten Ausdruck im berüchtigten „Aufruf an die Kulturnationen“ vom Oktober 1914. Die darin propagierten „Ideen von 1914“ „waren eine Absage an Liberalismus und Individualismus, an Demokratie und allgemeine Menschenrechte, kurz an die Werte des Westens. Deutsche Werte waren dagegen Pflicht, Ordnung und Gerechtigkeit, die nur durch einen starken Staat gewährleistet werden konnten“ (Der lange Weg nach Wes- ten, Bd. 1, S. 332). Zu diesen Ideen gehörte auch die „Volksgemeinschaft“, welche die Klassenspaltung und mit ihr den marxistischen Internationalis- mus überwinden sollte. Aus dem Ersten Weltkrieg erwuch- sen die totalitären Herausforderungen für das Projekt des Westens: Faschis- mus bzw. Nationalsozialismus und Kommunismus. Das „kurze 20. Jahr- hundert“ stand im Banne dieser Kon- flikte. Aber das wird das Thema für den zweiten Band von Winklers gro- ßem Werk sein. Ideal und politische Realität Die Widersprüche zwischen dem normativen Projekt des Westens und seiner praktischen Umsetzung be- trafen im 19. Jahrhundert sehr große Bevölkerungsgruppen in den Ländern des Westens selbst und die Bevölke- rung jener Gebiete im Nicht-Westen, welche jener direkt oder indirekt be- herrschte. An dieser Stelle können selbstverständlich nur wenige dieser Gegensätze kurz angerissen werden: * Die Arbeiterschaft erkämpfte sich staatsbürgerliche Rechte und ein men- schenwürdiges Dasein erst nach lang- wierigen, schweren und oft gewaltsam ausgetragenen Konflikten. * Den Frauen wurde politische Gleichberechtigung erst mit Verzöge- rung zugestanden. Vor 1914 hatten das allgemeine Frauenwahlrecht nur Neuseeland und das unter russischer Oberhoheit stehende Großfürstentum Finnland. * Im letzten Viertel des 19. Jahr- hunderts, dem Zeitalter des Imperia- lismus, teilten sich die europäischen Mächte und die Vereinigten Staaten weite Teile der nichteuropäischen Welt untereinander auf. Die wirtschaftlichen Interessen der Metropolen hatten ab- soluten Vorrang vor den Interessen der kolonialen (und quasi-kolonialen) Bevölkerungen. Letztere wurden als billige Arbeitskräfte ausgebeutet, was bis zur de facto-Versklavung gehen konnte. Gruppen, die Widerstand leis- teten, wurden mit allen militärischen Mitteln bekämpft. In den schlimmsten Fällen schloss das den Versuch des Genozids ein. Auf der anderen Seite bargen die Kolonialherrschaften auch – in sehr unterschiedlichem Ausmaß – Emanzipationspotenziale und entfalte- ten modernisierende Wirkungen. * Der politische Humanismus blieb lange an eine Rassenschranke ge- bunden. In den Südstaaten der USA endete die Versklavung der Afroame- rikaner erst mit dem Bürgerkrieg. Den Ureinwohnern Australiens und den nichtweißen Bewohnern vieler anderer westlicher Kolonien wurden die Men- schen- und Bürgerrechte bis weit ins 20. Jahrhundert vorenthalten. Was allerdings den Westen auch aus- zeichnet, ist – projektimmanent – seine

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