36. Jahrgang (2010), Heft 1 Wirtschaft und Gesellschaft
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Armut in Vergangenheit und
Gegenwart
Rezension von: Nikolaus Dimmel, Karin
Heitzmann, Martin Schenk (Hrsg.),
Handbuch Armut in Österreich, Studien-
Verlag, Innsbruck-Wien-Bozen 2009,
776 Seiten, € 39,90; Sylvia Hahn,
Nadja Lobner, Clemens Sedmak (Hrsg.),
Armut in Europa 1500-2000, StudienVer-
lag, Innsbruck-Wien-Bozen 2010,
295 Seiten, € 26,90.
Der Sammelband „Armut in Europa“
führt vor Augen, dass Armut ein dau-
erhaftes gesellschaftspolitisches und
soziales Problem darstellt. Die Formen
und Ursachen der Armut änderten sich
freilich im Laufe der Neuzeit. Weiters
stellen sich in diesem Zusammenhang
die folgenden Fragen: Was verstand
man überhaupt unter Armut? Wer war
davon betroffen? Mit welchen Maßnah-
men wurde Armut bekämpfts und von
wem? Wem kamen die Maßnahmen
zugute? Diese Fragen werden aus der
Perspektive verschiedener Wissen-
schaftsdisziplinen behandelt.
Seit dem späten Mittelalter unter-
schied man im mittel- und westeuropäi-
schen Raum zwischen sog. „würdigen“
und „unwürdigen“ Armen. Letztere
sollten keine finanziellen oder materi-
ellen Zuwendungen erhalten. Sie wa-
ren daher gezwungen, eine „Kultur des
Notbehelfs“ (Helmut Bräuer) zu entwi-
ckeln, um zu überleben.
In der Frühen Neuzeit übernahmen
die Gemeinden die Versorgung der
wachsenden Anzahl von Armen. Die-
jenigen, die Unterstützung von der Ar-
menfürsorge erhalten wollten, mussten
nicht nur Wohlverhalten zeigen, son-
dern auch der betreffenden Gemein-
de zugehörig sein. Viele Kommunen
reagierten auf den wachsenden An-
drang mit Restriktionen und mit dem
Abschub nicht zugehöriger Personen.
Die Hauptursachen der Verarmung
breiter Bevölkerungskreise in der Frü-
hen Neuzeit waren ökonomische Kri-
sen, demografische Entwicklungen
(zu rasches Bevölkerungswachstum in
Relation zur Ernährungsbasis – Mal-
thusianische Krisen), Naturkatastro-
phen (klimabedingte Ernteausfälle),
Seuchen und Kriege, wobei sich diese
Faktoren oft wechselseitig verstärkten.
Andreas Gestrich zeigt, wie wetterbe-
dingte Ernteausfälle zu Versorgungs-
engpässen und Hungerkrisen führten,
die wiederum die Ausbreitung von
Krankheiten, erhöhte Sterblichkeit,
einen Rückgang der Heirats- und Ge-
burtenraten sowie eine erzwungene
Mobilität junger Bevölkerungsgruppen
nach sich zogen. Die resultierende
Ausdünnung familiärer oder verwandt-
schaftlicher Netzwerke konnte breite
Schichten der Bevölkerung rasch an
den Rand der Armut bringen.
Im 18. und 19. Jahrhundert befand
sich ein nicht geringer Teil der Bevöl-
kerung stets unterwegs auf der Stra-
ße: mobile Arme, Vaganten, herum-
ziehende Schauspieler, Kleinhändler
und Hausierer. Gerhard Ammerer und
Sabine Veits-Falk behandeln die spe-
zifische Notökonomie dieses Perso-
nenkreises sowie dessen Kommunika-
tions- und Gruppenstrukturen.
Mit den Einrichtungen der Armenfür-
sorge, den zunächst multifunktionalen
Bürgerspitälern, die in manchen Städ-
ten sowohl Armen- und Altersheim,
Pilgerherberge als auch Waisen- und
Findelhaus, Gebär- und Irrenanstalt
waren, befassen sich Alfred Stefan
Weiß und Martin Scheutz.
Einige Beiträge des Sammelbandes
thematisieren die Armut in der Gegen-
wart, beispielsweise Christa Schla-
gers Artikel, worin nachgewiesen wird,