36. Jahrgang (2010), Heft 4 Wirtschaft und Gesellschaft
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Editorial
Europäische Wirtschaftspolitik nach der
Großen Rezession
I.
Schon vor der tiefsten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit verstärk-
ten sich die Anzeichen, dass sich sowohl global als auch innerhalb von
Wirtschaftsblöcken sowie einzelnen Volkswirtschaften Polarisierungs-
prozesse vollzogen, dass also Ungleichgewichte aller Art im Zuneh-
men waren. Global war ebenso ein Auseinanderdriften von Arm und
Reich zu beobachten, wie auf nationaler Ebene in den sogenannten
hoch entwickelten Industrieländern eine Polarisierung auf den Arbeits-
märkten sowie von Einkommen und Vermögen erfolgte.
In der Europäischen Union wird zwar das „Europäische Sozialmodell“
gepredigt, welches durchaus gewisse Elemente der Solidarität und des
Ausgleiches zwischen einzelnen Individuen und Gruppen enthält. Die
auf einem weitgehend neoliberalen Weltbild basierende Politik lässt al-
lerdings in der Praxis ArbeitnehmerInnen und sozial Schwächere wenig
davon spüren. Dagegen ist es erklärtes Ziel der Europäischen Union,
Unterschiede in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zwischen den
Mitgliedstaaten abzubauen, was insbesondere in einer Währungsunion
äußerst sinnvoll ist. Dafür existieren eine ganze Reihe von Politiken und
Instrumenten, von den Maastricht-Kriterien und dem Stabilitätspakt bis
zu den Strukturfonds. Tatsächlich ist es in den ersten zehn Jahren der
Gemeinschaftswährung gelungen, eine gewisse Konvergenz im mone-
tären Bereich, wie etwa bei Inflationsraten und Zinssätzen, herzustellen.
Allerdings akkumulierten sich im Hintergrund schleichend Ungleich-
gewichte, insbesondere in den Zahlungsbilanzen und in den öffent-
lichen Haushalten, welche im Zuge der jüngsten Krise dramatische Di-
mensionen annahmen und drohten, die Währungsunion zu sprengen.
II.
Zu Beginn dieses Jahrzehnts ließ sich generell in der EU ein rest-
riktiver Kurs der Finanzpolitik konstatieren. In der damaligen Krise fiel
die Neuverschuldung wesentlich geringer aus als in der Krise zu Be-
ginn der Neunzigerjahre. Doch hat beispielsweise Griechenland schon
im gesamten Lauf des Jahrzehnts Haushaltsdefizite von 5 und mehr
Prozent des Bruttoinlandsproduktes, also weit jenseits der Limits des