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2. Staatsbürgerschaft als Inklusionsinstrument
Ein modernes Staatsbürgerschaftsverständnis geht jedoch über eine auf kulturelle
Homogenisierung fokussierende Analyse von Nationsbildungsprozessen hinaus. Thomas H.
Marshalls Aufsatz „Staatsbürgerschaft und soziale Klassen“ (1950, 1992) zeigte in einer
Analyse der Entwicklung des britischen (residualen) Wohlfahrtstaates, dass das
universalistisch-egalitäre Konzept der Staatsbürgerschaft (der englische Ausdruck
„Citizenship“ umfasst sowohl den rechtlichen wie den gesellschaftspolitischen Aspekt) erst
durch die Verankerung der Schulpflicht und einer zumindest die Grundbedürfnisse
abdeckenden Wohlfahrtsstaatlichkeit sein Inklusionsversprechen realisierten und eine gegen
die Ungleichheitsstruktur des Kapitalismus gerichtete Dynamik entwickeln konnte (Marshall
1992, 54). Anhand einer – idealtypischen und von der historischen Forschung teilweise als
überholt kritisierten (Gosewinkel 2001) - Entwicklungsgeschichte der Staatsbürgerrechte
definiert Marshall Staatsbürgerschaft als zentrales gesellschaftliches Inklusionsinstrument
des modernen Staates und als aus drei Elementen bestehendes Rechtsbündel: Den im 18.
Jahrhundert entstandenen bürgerlichen Freiheitsrechten, die in der Gleichheit vor dem
Gesetz kodifiziert und dem staatlichen Gerichtswesen institutionalisiert wurden; den im 19.
Jahrhundert durchgesetzten politischen Teilhaberechten, insbesondere dem Wahlrecht und
deren Institutionalisierung in den Parlamentswahlen; sowie den im 20. Jahrhundert
durchgesetzten sozialen Rechten, insbesondere dem Recht auf Bildung, Gesundheit und
Wohlfahrt und den entsprechenden Institutionalisierungen in wohlfahrtsstaatlichen
Einrichtungen.
Erst die Durchsetzung sozialer Rechte ermöglichte dem Einzelnen tatsächliche politische
Teilhabe auch im Fall von Arbeitslosigkeit oder Krankheit. Der Wohlfahrtsstaat ist laut
Marshall die zentrale Voraussetzung für ein Nebeneinander von Kapitalismus und
Demokratie und einer – zwar prekären, aber doch die gesamte Bevölkerung erfassenden –
Integration:
„Die Schaffung einer Mischwirtschaft und die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates sind
Prozesse, in denen (…) der Kapitalismus soweit zivilisiert wurde, um mit der Demokratie
existieren zu können.“ (Marshall 1992, 145).
Marshalls Analyse rückt das Verhältnis von Individuum und Staat in den Vordergrund und
beschreibt eine historische Ausdehnung der Rechtsansprüche der Einzelnen gegenüber dem
Staat. Diese auf der Grundlage des Konzepts der Rechtsgleichheit aller
Gesellschaftsmitglieder beruhende Dynamik der Rechtsausweitung ist eine Voraussetzung
für langfristig haltbaren gesellschaftlichen Wandel und eine Reform des Kapitalismus durch
eine kontinuierliche Anreicherung und Ausweitung von Staatsbürgerrechten.
Marshalls Konzept einer wohlfahrtsstaatlich verankerten gesellschaftlichen Integration durch
die Ausweitung von Staatsbürgerrechten blendete zwei Themen aus, die in den 1980er
Jahren die wiedererstarkende Diskussion bestimmen sollten: Die Frage der Zugangsregeln
zur Staatsbürgerschaft und die Rolle der kulturellen Homogenisierung im Nationalstaat.
Letztere war von Marshall als logische Konsequenz und Notwendigkeit der Schulpflicht
begrüßt worden, da erst durch die Entwicklung einer geteilten materiellen Kultur
Klassengrenzen zurückgedrängt wurden und ein gemeinsamer gesellschaftlicher Raum
entstehen konnte. Marshalls Analysen verblieben auch in der Folge im Rahmen
unhinterfragter Nationalstaatlichkeit und berührten das Thema Migration und
Staatsbürgerschaft nicht.