Europäische Grundfreiheiten und nationales Sozial(leistungs)recht ? W. J. Pfeil
12 DRdA ? 1/2010 ? Februar
Übersicht
1. Problemstellung und Ausgangssituation
2. Einflussnahme über Grundfreiheiten
2.1. Übersicht
2.2. Dienstleistungsfreiheit
2.3. Zwischenbilanz
3. Aktuelle Beispiele für Auswirkungen auf
das nationale Sozial(leistungs)recht
3.1. Niederlassungsfreiheit: Bedarfsprü-
fung (Rs Hartlauer)
3.2. Dienstleistungs- bzw Warenverkehrs-
freiheit: Kostenerstattung nach § 131
ASVG
3.3. Freizügigkeit: Pensionsvorschuss
(Rs Petersen)
3.4. Freizügigkeit (der Unionsbürger):
Föderale Systeme (Rs Communauté
française – Flämisches Pflegegeld)
4. Zusammenfassung und Perspektiven
1. Problemstellung und
Ausgangssituation
Der diesem Text zugrunde liegende Vortrag hätte
eigentlich von einer Europarechtlerin gehalten werden
sollen. Da diese aus zwingenden persönlichen Grün-
den verhindert war, durfte ich kurzfristig einspringen
und habe aus der Not – hoffentlich – eine Tugend
gemacht, indem ich die Entscheidung des Präsidiums,
nicht jemanden mit dem Schwerpunkt im Europa-,
sondern im Arbeits- und Sozialrecht als Ersatz einzu-
laden, auch ein wenig als programmatischen Auftrag
verstanden habe.
Da ich mich somit zumindest auch wegen mei-
ner „sozialrechtlichen Brille“ zum Verhältnis zwischen
Europäischen Grundfreiheiten und nationalem Sozi-
alrecht äußern soll, werde ich mich weniger um eine
detailreiche Darstellung und Auseinandersetzung mit
möglichst vielen EuGH-Entscheidungen bemühen.
Vielmehr soll in der Folge zunächst versucht werden,
einige wesentliche Grundlinien dieser Judikatur kritisch
zu beleuchten und deren Konsequenzen für das natio-
nale Sozialrecht mit dem Fokus auf das Leistungsrecht
aufzuzeigen (2.). Diese sollen in der Folge dann doch
anhand ein paar konkreter Entscheidungen illustriert
werden (3.), wobei ich bei deren Auswahl zunächst auf
die Aktualität sowie darauf geachtet habe, möglichst
alle Grundfreiheiten (mit Ausnahme jener im Hinblick
auf den hier wohl unbeachtlichen Kapitalverkehr) abzu-
decken. Vor allem geht es mir freilich darum, exem-
plarisch Themen zu behandeln, die ein besonderes
Spannungsverhältnis von Grundfreiheiten und natio-
nalem Sozialrecht in sich bergen (könnten). Insofern
darf nicht überraschen, wenn dabei – und nicht nur
am Schluss (4.) – auch rechtspolitische Aspekte ange-
sprochen werden.
Dies scheint umso mehr geboten, als die Grundfra-
gestellung eigentlich keine großen Spannungen in sich
bergen dürfte. Eine oberflächliche Betrachtung des
Gemeinschaftsrechts führt nämlich zu dem Befund,
dass sowohl das Sozial(leistungs)recht als auch das
Gesundheitswesen eindeutig eine Sache der Mitglied-
staaten sind und das Primärrecht nur ganz wenige
ausdrückliche Bezüge zum Sozialrecht enthält: Hier ist
vor allem Art 42 EGV zu nennen, der eine Koordina-
tion der sozialen Sicherheit anordnet, diese aber zum
einen nur als Flankierung der Freizügigkeit versteht
Europäische Grundfreiheiten und nationales
Sozial(leistungs)recht1)
WALTER J. PFEIL (SALZBURG)
Obwohl das Sozialleistungsrecht weitestgehend in der Kompetenz der Mitgliedstaa-
ten liegt, sind von den Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts und deren extensiver
Auslegung durch den EuGH zahlreiche Einflüsse auf die nationalen Sozialsysteme aus-
gegangen. Diese „Eingriffe“ und deren Berechtigung werden im vorliegenden Beitrag
anhand von aktuellen Beispielen einer kritischen Bewertung auch in rechtspolitischer
Sicht unterzogen.
1) Aktualisierte und nur geringfügig erweiterte (sowie mit
den wichtigsten Anmerkungen versehene) schriftliche
Fassung des bei der 44. Tagung der Österreichischen
Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht am
27.3.2009 in Zell am See gehaltenen Vortrages.
Wie bereits dieses Referat ist auch der vorliegende
Beitrag dem Andenken an den langjährigen Präsiden-
ten und späteren Ehrenpräsidenten der Gesellschaft
em.o.Univ.-Prof. Dr.h.c. DDr. Hans Floretta gewidmet,
unter dessen Ägide ich meine ersten wissenschaftlichen
Schritte machen durfte und der kurz vor „seiner“ Zeller
Tagung im 87. Lebensjahr verstorben ist.