Trotz regelmäßigen Arbeitseinsatzes in Deutschland – keine Anwendung des Mindestlohngesetzes ? W. KOZAK
DRdA ? 5/2017 ? Oktober382
Mindestlohn für die in Deutschland erbrachten
Arbeitsleistungen weit übertroffen. [...]
Rechtliche Beurteilung
[...]
1. Auf den gegenständlichen, nach dem 16.12.2009
geschlossenen Arbeitsvertrag findet die Verord-
nung (EG) Nr 593/2008 des Europäischen Par-
laments und des Rates vom 17.6.2008 über das
auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende
Recht (Rom I) Anwendung (Art 28 Rom I-VO).
Nach deren Art 8 Abs 2 unterliegt der Individual-
arbeitsvertrag dem Recht des Staates, in dem oder
andernfalls von dem aus der AN in Erfüllung des
Vertrags gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, soweit
das auf den Arbeitsvertrag anzuwendende Recht
nicht durch Rechtswahl bestimmt ist. Der Staat, in
dem die Arbeit gewöhnlich verrichtet wird, wech-
selt nicht, wenn der AN seine Arbeit vorüberge-
hend in einem anderen Staat verrichtet.
Dass nach dieser Kollisionsnorm auf das vorliegen-
de Arbeitsverhältnis grundsätzlich österreichisches
Arbeitsrecht Anwendung findet, weil die Arbeits-
vertragsparteien keine Rechtswahl vorgenommen
haben, der Kl seine Dienste jeweils von Öster-
reich aus antrat und auch dort beendete und sein
Arbeitseinsatz in Deutschland nur vorübergehend
war (vgl Erwägungsgrund 36 Rom I-VO; EuGH
15.3.2011, C-29/10, Koelzsch, Rn 49 f), wird von
den Parteien im Revisionsverfahren nicht weiter in
Frage gestellt.
Der Kl beruft sich im Verfahren auch nicht (iSd
Art 23 Rom I-VO) auf die Anwendung der RL 96/71/
EG des europäischen Parlaments und des Rates
über die Entsendung von AN im Rahmen der
Erbringung von Dienstleistungen vom 16.12.1996
(Entsende-RL) und die sich aus deren Art 3 Abs 1
allenfalls ergebende Anwendung des § 20 MiLoG
auf das Arbeitsverhältnis. Insb erstattete er kein
Sachverhaltsvorbringen zum Vorliegen eines Ent-
sendetatbestands iSd Art 1 Abs 3 lit a bis c der
Entsende-RL.
2. Somit stellt sich die Frage, ob die Bestim-
mungen der §§ 1, 20 des deutschen MiLoG als
Eingriffsnormen iSd Art 9 Rom I-VO angesehen
werden können und auf das gegenständliche,
dem österreichischen Arbeitsrecht unterliegende
Arbeitsverhältnis einwirken. Eine Eingriffsnorm ist
eine zwingende Vorschrift, deren Einhaltung von
einem Staat als so entscheidend für die Wahrung
seines öffentlichen Interesses, insb seiner politi-
schen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation,
angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach
Maßgabe dieser Verordnung auf den Vertrag anzu-
wendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwen-
den ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen
(Art 9 Abs 1 Rom I-VO). Eingriffsnormen – diese
können öffentlich-rechtlicher oder privatrechtli-
cher Natur sein (2 Ob 122/11x) – stellen staatliche
Zwangsvorschriften dar, die im öffentlichen Inte-
resse aus ordnungspolitischen Gesichtspunkten,
also insb aus beschäftigungs-, gesundheits- oder
sozialpolitischen Überlegungen auf das Arbeits-
verhältnis am jeweiligen Beschäftigungsort einwir-
ken, selbst wenn dieser nur vorübergehend wäre
(9 ObA 65/11s; Wolfsgruber in ZellKomm2 Art 9
Rom I-VO Rz 32; Pfeil, Grenzüberschreitender
Einsatz von Arbeitnehmern [Teil I], DRdA 2008, 3
[8]; Musger in KBB4, Art 9 Rom I-VO Rz 1 unter
Bezugnahme auf EuGH 23.11.1999, C-369/96 ua,
Arblade, Rz 30). Ob eine Norm internationalen
Geltungswillen beansprucht, bestimmt der Staat,
der eine solche Vorschrift erlässt (9 ObA 65/11s;
2 Ob 40/15v; Rauscher/Thorn, EuZPR/EuIPR [2016]
Art 9 Rom I-VO Rn 8 f).
3. Nach § 20 des – gem Art 15 Abs 1 des Tarifau-
tonomiestärkungsgesetzes am 16.8.2014 in Kraft
getretenen – deutschen Gesetzes zur Regelung
eines allgemeinen Mindestlohns (MiLoG) sind AG
mit Sitz im In- oder Ausland verpflichtet, ihren im
Inland beschäftigten AN ein Arbeitsentgelt mindes-
tens in Höhe des Mindestlohns nach § 1 Abs 2
spätestens zu dem in § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 genann-
ten Zeitpunkt zu zahlen. Jede/r AN hat Anspruch
auf Zahlung eines Arbeitsentgelts mindestens in
Höhe des Mindestlohns durch den AG (§ 1 Abs 1
MiLoG). Die Höhe des Mindestlohns beträgt ab
dem 1.1.2015 brutto 8,50 € je Zeitstunde (§ 1
Abs 2 Satz 1 MiLoG), ab dem 1.1.2017 8,84 €. Die
Fälligkeit des Mindestlohns regelt § 2 MiLoG. In
§ 21 Abs 1 Z 9 MiLoG finden sich Bußgeldvor-
schriften auch für den Fall eines Verstoßes gegen
§ 20 MiLoG.
4. Selbst wenn man nun unter Anwendung der
unter Pkt 2 genannten Erwägungen in Einklang
mit der österreichischen (Niksova, Das deutsche
Mindestlohngesetz in grenzüberschreitenden
Sachverhalten, ZAS 2016/28, 156 [162]; Windisch-
Graetz, Grenzüberschreitende Arbeitsverhältnisse
im Spannungsfeld von Rom I und Entsendericht-
linie, ZfRV 2015/24, 192 [197]) und deutschen
Lehre (BeckOK ArbR/Greiner MiLoG § 20 Rn 1-2;
ErfK/Franzen MiLoG § 20 Rn 1; Franzen, Mindest-
lohn und kurzzeitige Beschäftigung in Deutsch-
land, EuZW 2015, 449; Pfeiffer, Der internationale
Anwendungsbereich des Mindestlohngesetzes, in
FS Coester-Waltjen [2015] 612 mwN; Sittard, Gilt
das Mindestlohngesetz auch beim Kurzeinsatz in
Deutschland? NZA 2015, 78 [79]) davon ausgeht,
dass die §§ 1, 20 MiLoG Eingriffsnormen iSd Art 9
Abs 1 Rom I-VO sind, wäre für den Kl nichts
gewonnen.
5.1. Die unmittelbare Anwendung von Eingriffs-
normen iSd Art 9 Abs 1 Rom I-VO setzt nämlich
nach Art 9 Abs 3 Satz 1 Rom I-VO voraus, dass
den Eingriffsnormen des Staates, in dem die durch
den Vertrag begründeten Verpflichtungen erfüllt
werden sollen oder erfüllt worden sind, Wirkung
verliehen wurde, soweit diese Eingriffsnormen die
Erfüllung des Vertrags unrechtmäßig werden lassen.
Unter „Wirkungsverleihung“ ist sowohl die unmit-
telbare Anwendung einer im Recht des Erfüllungs-
orts enthaltenen Sanktion (Nichtigkeit, Anfechtbar-
keit) als auch die Berücksichtigung der Norm als
Erfüllungshindernis im Rahmen des Vertragsstatuts
(Unmöglichkeit der Leistung) zu verstehen (Musger
in KBB4 Art 9 Rom I-VO Rz 4 mwN).
5.2. Bei der Entscheidung, ob den Eingriffsnor-
men iSd Art 9 Abs 1 Rom I-VO Wirkung zu ver-
leihen ist, werden Art und Zweck dieser Normen
sowie die Folgen berücksichtigt, die sich aus