Trotz regelmäßigen Arbeitseinsatzes in Deutschland – keine Anwendung des Mindestlohngesetzes ? W. KOZAK
DRdA ? 5/2017 ? Oktober 383
ihrer Anwendung oder Nichtanwendung ergeben
würden (Art 9 Abs 3 Satz 2 Rom I-VO). Die Ein-
beziehung von Art und Zweck der ausländischen
Eingriffsnorm in diese Ermessensentscheidung des
Gerichts ermöglicht dem Richter eine materiell-
rechtliche Bewertung der ausländischen Eingriffs-
norm (Rauscher/Thorn, EuZPR/EuIPR [2016] Art 9
Rom I-VO Rn 71).
5.3. Der deutsche Gesetzgeber wollte, wie aus den
Gesetzesmaterialien (BT-Drs. 18/1558, 2) hervor-
geht, durch die Einführung eines flächendecken-
den gesetzlichen Mindestlohns AN vor unange-
messen niedrigen Löhnen schützen. Zugleich trage
der Mindestlohn dazu bei, dass der Wettbewerb
zwischen den Unternehmen nicht zu Lasten der
AN durch die Vereinbarung immer niedrigerer
Löhne, sondern um die besseren Produkte und
Dienstleistungen stattfinde. Das Fehlen eines Min-
destlohns könne ein Anreiz sein, einen Lohnunter-
bietungswettbewerb zwischen den Unternehmen
auch zu Lasten der sozialen Sicherungssysteme zu
führen, weil nicht existenzsichernde Arbeitsentgel-
te durch staatliche Leistungen der Grundsicherung
für Arbeitsuchende „aufgestockt“ werden könnten.
Der Mindestlohn schütze damit die finanzielle Sta-
bilität der sozialen Sicherungssysteme.
Der Zweck des deutschen Mindestlohngesetzes, AN
vor unangemessen niedrigen Löhnen zu schützen,
betrifft vorrangig AN, die ständig bzw längerfristig
und nicht nur vorübergehend ihre Arbeitstätigkeit
in Deutschland verrichten. Denn sie kommen nicht
unerheblich mit den deutschen Lebenshaltungs-
kosten in Berührung. Dass auch der Kl, der nur
fallweise und kurzfristig mit Arbeitseinsätzen in
Deutschland betraut und nach dem österreichi-
schen KollV für das Personenbeförderungsgewerbe
mit Pkw entlohnt wurde, einen besonderen Bezug
zu den deutschen Lebenshaltungskosten aufwies
und einen dazu im Verhältnis unangemessenen
Lohn bezog, hat er nicht behauptet. Berücksichtigt
man weiters, dass den vom AG in Österreich – im
Gegensatz zu jenen in Deutschland – beschäftig-
ten Taxilenkern nach Art XV des Bundes-KollV
für das Personenbeförderungsgewerbe mit Pkw
(Arbeiter) bzw Art XIV Bundes-KollV für das Perso-
nenbeförderungsgewerbe mit Pkw (Angestellte) an
Sonderzahlungen eine Urlaubs- und Weihnachtsre-
muneration zusteht, dann ist auch die Gefahr
des Lohndumpings durch österreichische AG in
Deutschland nicht evident. Gegenteiliges hat auch
der Kl nicht behauptet.
Der Stundenlohn nach dem in Rede stehenden
KollV beträgt in Österreich inklusive der Sonderzah-
lungen 8,14 € brutto ([1.207, 11 x 14:12]:173). Der
Unterschied zwischen dem kollektivvertraglichen
Stundenlohn in Österreich und dem deutschen
Mindeststundenlohn nach dem MiLoG von 8,50 €
beläuft sich daher auf 0,36 Cent pro Arbeitsstunde.
Der Kl hätte somit bei Nichtanwendung des deut-
schen MiLoG für seine festgestellten Arbeitsver-
richtungen in Deutschland einen um diesen Betrag
geringeren Grundstundenlohn erhalten.
Der Zweck des deutschen Mindestlohns, die finan-
zielle Stabilität der sozialen Sicherungssysteme zu
schützen, kommt im vorliegenden Fall nicht zum
Tragen. Der Kl hat nämlich auch nicht behauptet,
am deutschen sozialen Sicherungssystem teilzu-
nehmen.
5.4. Die Folgen der Anwendung des deutschen
MiLoG für den bekl AG mit Sitz in Österreich sind
hingegen gravierend. Wird ein AN vom österreichi-
schen AG, wie im Anlassfall, an einzelnen Tagen
und kurzfristig mit der teilweisen Verrichtung von
Arbeitstätigkeiten in Deutschland betraut, wird er
durch die umfassenden, ihn treffenden Melde- und
Dokumentationspflichten gem §§ 16, 17 MiLoG
beschränkt (BeckOK ArbR/Greiner, MiLoG § 22
Rn 5; ErfK/Franzen, MiLoG § 20 Rn 2; Fran-
zen, Mindestlohn und kurzzeitige Beschäftigung in
Deutschland, EuZW 2015, 449 [450]). Damit wäre
unter Umständen – wie im vorliegenden Fall – jede
spontane Tätigkeit der Bekl in Deutschland (zB
eine sofortige Taxifahrt nach Anruf eines Kunden
von Salzburg nach München) faktisch unmög-
lich (vgl Sittard, Gilt das Mindestlohngesetz auch
beim Kurzeinsatz in Deutschland? NZA 2015, 78
[82]). Gem § 16 Abs 1 MiLoG sind AG mit Sitz im
Ausland nämlich verpflichtet, schon vor Beginn
jeder Werk- oder Dienstleistung eine schriftliche
Meldung in deutscher Sprache bei der zuständigen
Behörde der Zollverwaltung vorzulegen, in der ua
Name, Beginn, Dauer und Ort der Beschäftigung
zu nennen sind. § 17 Abs 1 MiLoG verpflichtet in
bestimmten Fällen ausländische AG – wie auch
hier die Bekl –, Beginn, Ende und Dauer der tägli-
chen Arbeitszeit der in Deutschland beschäftigten
AN spätestens bis zum Ablauf des siebten auf den
Tag der Arbeitsleistung folgenden Kalendertags
aufzuzeichnen und diese Aufzeichnungen mindes-
tens zwei Jahre aufzubewahren. Die seit 1.8.2015
in Kraft getretene Mindestlohndokumentations-
pflichtenverordnung (MiLoDokV) sieht zwar eine
Erleichterung dahingehend vor, dass die Melde-
und Dokumentationspflichten der §§ 16, 17 MiLoG
für solche AN nicht gelten, deren monatliches
Entgelt 2.985 € brutto überschreitet oder 2.000 €
brutto, wenn der AG dieses Entgelt nachweislich
für die letzten vollen 12 Monate bezahlt hat, doch
trifft dies auf das gegenständliche Arbeitsverhältnis
nicht zu.
6. Die abschließende Abwägung der unter Pkt 5.3.
beschriebenen Folgen für den Kl durch die Nicht-
anwendung des MiLoG mit jenen unter Pkt 5.4.
dargelegten für die Bekl durch eine Anwendung
des MiLoG lässt es unter Berücksichtigung von Art
und Zweck der Bestimmungen der §§ 1, 20 des
deutschen Gesetzes zur Regelung eines allgemei-
nen Mindestlohns (MiLoG) gerechtfertigt erschei-
nen, diesen Bestimmungen im vorliegenden Fall
keine Wirkung iSd Art 9 Abs 3 Satz 2 der VO (EG)
Nr 593/2008 des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 17.6.2008 über das auf vertragliche
Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I)
zu verleihen. Dies führt im Ergebnis dazu, dass
die Bestimmungen der §§ 1, 20 MiLoG auf das
konkrete im Anlassfall zu beurteilende Arbeits-
verhältnis nicht anzuwenden sind. Es bleibt daher
nach Art 8 Abs 2 Rom I dabei, dass der dem Kl
zustehende Lohn nach österreichischem Recht
zu beurteilen ist. [...]