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Vollzeitmann“ 2009 von der Arbeitnehmerkammer Bremen zusammen mit INQA (Initiative
Neue Qualität der Arbeit) herausgegeben wurde.
Eine wirkliche Hilfe wären dagegen Arbeitszeiten um die 30 Wochenstunden, wie sie als „lan-
ge Teilzeit“ zum Beispiel vom Rentenexperten Bernd Rürup vorgeschlagen wurden. Helmut
Spitzley, verstorbener Professor für Arbeitswissenschaften der Universität Bremen, schlug da-
für stattdessen den Begriff „kurze Vollzeit“ vor, um die mit dem Begriff „Teilzeit“ nach wie vor
einhergehende stigmatisierende Assoziation „Halbtagsarbeit“, „nicht vollwertig“, „nicht für
Männer“ zu vermeiden.
Interessanterweise entsprechen 30 Wochenstunden ziemlich genau den Arbeitszeitwünschen
berufstätiger Eltern. Auch der 1. Gleichstellungbericht der Bundesregierung aus dem Jahr
2012 schlägt eine kurze Vollzeit mit Arbeitszeiten zwischen 30 und 35 Wochenstunden vor,
und selbst die konservative Bundesfamilienministerin Kristina Schröder sprach sich für eine
30-Stunden-Woche für berufstätige Eltern aus. Die von ihr zusammen mit DIHT, DHWK, DGB
und BDA ins Leben gerufene „Allianz für familienfreundliche Arbeitszeiten“ hat in ihrer Charta
die kurze Vollzeit als einen von zehn Punkten angeführt. Die derzeitige SPD-Bundesfamilien-
ministerin Manuela Schwesig hat diesen Gedanken konsequent zur Idee einer Familienar-
beitszeit von 80 % (= 30–32 Stunden) der Arbeitszeit für beide Elternteile mit einem staatlich
subventionierten Teillohnausgleich weiterentwickelt.
„RUSHHOUR DES LEBENS“
Das ist nur folgerichtig, denn die größten Arbeitszeitprobleme stellen sich in Deutschland
Männern wie Frauen in der sogenannten „Rushhour des Lebens“, wenn in der Altersgruppe
zwischen 25 und 39 Karriere und Familiengründung gleichzeitig auf der Tagesordnung stehen.
Wer in Deutschland Karriere machen will, muss sich in der Regel auf die deutsche Langzeitar-
beitskultur mit ständiger Verfügbarkeit einlassen. Gleichzeitig brauchen PartnerIn und Kinder
Zeit – Zeit für Beziehung und Betreuung, für Erziehung und Gemeinsamkeit, aber auch für
Hausarbeit, und zwar verlässlich, zu planbaren Zeiten. Nicht zufälligerweise sind laut Umfra-
gen inzwischen für 93 % dieser Altersgruppe Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und
Beruf mindestens genauso wichtig wie die Höhe des Gehalts.
Eine zeitlich ganz besonders belastete Gruppe gibt es zunehmend unter den um die 40-Jäh-
rigen, die noch kleine Kinder und schon pflegebedürftige Eltern haben und sich in der soge-
nannten „Sandwich-Position“ mit dreifachen Zeitforderungen von betreuungsbedürftigen Kin-
dern, pflegebedürftigen Eltern und Erwerbsarbeit befinden. Die Frage der Vereinbarkeit von
Beruf und Pflege wird für Frauen sowieso, zunehmend aber auch für Männer, ein immer drän-
genderes Zeitproblem.
Bei den Familien mit kleinen Kindern haben wir das Paradox, dass junge Väter in großem Um-
fang an der Betreuung und Erziehung ihrer Kinder beteiligt sein möchten (der rasante Anstieg
des Anteils der Männer in Elternzeit von 3 % auf inzwischen 35 % ist Indiz dafür), gleichzeitig
aber Väter mit kleinen Kindern die längsten Erwerbsarbeitszeiten aller Beschäftigtengruppen
überhaupt haben (wie auch von der Elternzeit von den meisten Vätern nur die zwei sogenann-
ten Papamonate genutzt werden).