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Ingrid Kurz-Scherf (Philipps-Universität Marburg)
EIN ANDERES EUROPA:
KONKRETE UTOPIEN UND GESELLSCHAFTLICHE PRAXEN
„WEM GEHÖRT DIE ZEIT?“ FEMINISTISCHE PERSPEKTIVEN AUF DIE
ZUKUNFT DER ARBEIT IN EUROPA
1 EINLEITUNG: „LUST AUF REVOLUTION?“
„Ich träume von einer Revolution“ – unter dieser Überschrift berichtete „SPIEGEL ONLINE“ im
Sommer 2014 vom Experiment des 6-Stunden-Tags in der schwedischen Stadt Göteborg. Die
Überschrift zitiert einen der Betreiber dieses Experiments, der sich davon einen durchaus revo-
lutionären Impuls zur Entfaltung einer neuen Arbeitskultur in Schweden erhofft (vgl. SPIEGEL
ONLINE, 25. 4. 2014). „Lust auf Revolution?“ – so fragte Anfang 2015 die österreichische Zei-
tung „Der Standard“ den deutschen Soziologen Stefan Lessenich anlässlich der von ihm her-
ausgegebenen Neuauflage der Schrift von Paul Lafargue aus dem Jahr 1883 über „Das Recht
auf Faulheit“. In dieser Schrift wollte Lafargue sich schon nicht mehr mit dem 6-Stunden-Tag,
den Thomas Morus ja schon im 16. Jahrhundert den EinwohnerInnen der Insel Utopia verord-
net hatte, zufrieden geben; angesichts der im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung
schon bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu verzeichnenden Zunahme der Arbeitsproduktivi-
tät schlug Lafargue vielmehr vor, „ein ehernes Gesetz zu schmieden, das jedermann verbietet,
mehr als drei Stunden pro Tag zu arbeiten“ (Lafargue 1883/2014). Dazu Stefan Lessenich: „Das
Recht auf Faulheit ist eine polemische und provokative Umschreibung eines zunächst ziemlich
reformistisch anmutenden Gedankens, nämlich einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung“ (Les-
senich 2015) – und der sei heutzutage aktueller denn je. Aber obwohl die Forderung nach einer
allgemeinen Arbeitszeitverkürzung „ziemlich reformistisch“ anmute, bedürfe es – so Lessenich
weiter – zu ihrer praktischen Umsetzung wohl nicht weniger als einer Kulturrevolution.
Die Rede von Revolution im Kontext des doch eigentlich „reformistisch anmutenden“ Kon-
zepts einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung verweist auf eine auch in anderen Bereichen zu
konstatierende Verschiebung im politischen Terrain zwischen Reform und Revolution. Refor-
men stehen heutzutage oft nicht mehr in der langen Tradition sozialreformerischer Bemühun-
gen um die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen in den modernen Gesell-
schaften und um die Weiterentwicklung sozialer Errungenschaften der Vergangenheit, son-
dern sind auf die Absenkung, Auflösung und Flexibilisierung sozialer Standards orientiert.
Ehemals reformistische Strategien der Einbindung der kapitalistischen Wirtschaftsweise in
eine Politik der Beförderung des Gemeinwohls und des „Wohlstands für alle“ sind allem An-
schein nach an die Grenzen der Konzessionsbereitschaft und -fähigkeit der SachwalterInnen
und NutznießerInnen ebendieser kapitalistischen Wirtschaftsweise gestoßen. An den Grenzen
ihrer Machbarkeit bzw. Durchsetzbarkeit unter Status-quo-Bedingungen entfalten ehemals
reformistische Konzepte eine utopisch anmutende Qualität, die allerdings vielfach auch ein-
fach als Verlust ihrer Realitätstauglichkeit wahrgenommen wird.