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Die Neoaristotelikerin Martha Nussbaum wendet sich in ihrem aktuellen Buch „An-
ger and Forgiveness“ gegen den Zorn und plädiert für eine Kultur der Gelassenheit. Be-
sonnenheit ist ein stoisches Ideal. Nussbaum (2016) prüft, ob Zorn zum Schutz der
Würde und zur Wahrung der Selbstachtung unerlässlich ist und ob Zorn einen wesentli-
chen Bestandteil der Bekämpfung von Ungerechtigkeit darstellt.
Zorn von Arm auf Reich?
Exzessiver Reichtum verletzt wesentliche Gerechtigkeitsvorstellungen, und die Politik unter-
nimmt wenig gegen die eklatante Ungleichheit. Daher wäre zu erwarten, dass der Zorn auf
die Reichen groß ist. Ein solcher Zorn kann zu einem Engagement in einer sozialen Bewe-
gung, zur Teilnahme an Protesten und Demonstrationen und letztlich zu Revolutionen füh-
ren. Der Zorn der Armen wäre eine verständliche Reaktion auf exzessiven Reichtum.
Allein die Möglichkeit eines solchen maßlosen Zorns der Armen beunruhigt Men-
schen in der Mitte der Gesellschaft. Der imaginierte Zorn der Armen wird in der Fanta-
sie rasch in die Nähe von Hass und Gewalt gerückt.
Doch welche empirischen Belege für einen Zorn von Arm gegen Reich gibt es über-
haupt? Georg Büchners Diktum „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“ ist nicht Wirk-
lichkeit geworden. Zorn und Hass richten sich in Europa gegen Flüchtlingsheime, aber
nicht gegen Paläste. Zorn erregen in den USA arme Fremde, während reiche Landsleute
sogar patriotische Freude wecken können.
In sozialen Auseinandersetzungen bleibt der Zorn auf reiche Menschen moderat. Die
„Panama Papers“ und die „Paradise Papers“ mit all den Namen bekannter reicher
Steuerhinterzieher*innen lösten nur ein Rauschen im Blätterwald aus, obwohl hier sicht-
bar wurde, wie einfach sich reiche Menschen der sonst üblichen Besteuerung entziehen
können. Zu Zornesäußerungen der betrogenen Bevölkerung, die Steuern in keiner Wei-
se vermeiden kann, kam es nicht. Warum ist das so?
Reiche Menschen zeigen sich nur schemenhaft. Sie geben für Statusvergleiche wenig
her, weil sie viel zu weit weg sind von der Lebenswelt der Armen. Nüchtern abwägen
kann die Bevölkerung die Frage nach einem angemessenen Abstand zwischen Arm und
Reich nicht. Es fehlen entscheidende Daten zum Unternehmens- und Finanzvermögen,
zum Vermögen der Stiftungen und zum versteckten Vermögen. Aber auch diverse Recht-
fertigungsnarrative zu den Privilegien der Reichen können nicht rational geprüft werden.
Doch für Zorn könnte theoretisch auch die vage Ahnung von der enormen Kluft zwi-
schen Arm und Reich ausreichen. Daher ist es aus Sicht der Reichen funktional, eine
bestimmte Art von Zorn verächtlich zu machen.
In einer ungleichen Gesellschaft erhöht die Ungleichheit die Unsicherheit der ärme-
ren Menschen. Diesen wird eine Statusjagd aufgenötigt. Frei gewählt ist sie sicher nicht,